# taz.de -- Evangelikale in Deutschland: Um Gottes willen! | |
> Sie kämpfen gegen Emanzipation und Evolutionslehre, Pornografie, | |
> Homosexualität und den Islam: Evangelikale Christen sind auf einem | |
> Kreuzzug gegen den Zeitgeist in Deutschland. | |
Bild: Es gilt ausschließlich: Das geschriebene Wort! | |
Pastor Wenz geht auf der Bühne hin und her. Ein hagerer Mann, der das Haar | |
streng zur Seite gescheitelt trägt. Später wird er seiner Stuttgarter | |
Gemeinde jovial zurufen: "Komm, wir geben Jesus mal einen richtigen | |
Applaus!" Und seine Gemeinde wird johlen, tosen, klatschen. Nun aber ballt | |
Wenz die Hand zur Faust. "Es gibt Feinde", ruft er. "Es gibt Menschen, aber | |
auch böse Mächte, die das nicht wollen, was Gott will!" Schweißflecken | |
zeichnen sich unter seinen Achseln ab. "Wir sind das Volk Gottes, wir sind | |
eine heilige Nation", brüllt er schließlich. "Ist Gott für uns, wer mag | |
wider uns sein?" | |
Peter Wenz ist Leiter der Biblischen Glaubensgemeinde im Stuttgarter | |
Stadtteil Feuerbach. Bis zu 4.000 Menschen kommen jedes Wochenende in die | |
Gottesdienste. Im Jahr macht das knapp 200.000 Besucher - und das | |
Gotteshaus zur wohl ersten evangelikalen Megachurch in Deutschland. | |
In den USA wird am Ende der Ära Bush ein Viertel der Bevölkerung den | |
Evangelikalen zugerechnet, das wären mehr als 70 Millionen | |
ultrakonservative Protestanten, die auf einer wörtlichen Auslegung der | |
Bibel bestehen. Selbst der neue Präsident Barack Obama kommt offenbar nicht | |
an ihnen vorbei: Bei seiner Amtseinsetzung am 20. Januar wird der | |
evangelikale Pastor Rick Warren - ein erbitterter Gegner von Homoehe und | |
Abtreibung - um Gottes Beistand bitten. In Deutschland dagegen haben sich | |
die evangelikalen Christen lange abgeschottet und öffentlich wenig | |
eingemischt - ganz im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die politische | |
Zurückhaltung nahe legt. Sie kuschelten sich in ihren frommen Ghettos ein, | |
kritisierten selbst die Vertreter der Evangelikalen die eigenen Schäfchen | |
immer wieder. Inzwischen ist aber von politischer Zurückhaltung nichts mehr | |
zu spüren. Wenn von diesem Sonntag an rund 350.000 deutsche Evangelikale an | |
ihrer jährlichen Gebetswoche teilnehmen, beten sie auch "für Christen in | |
Schlüsselpositionen von Politik, Kultur, Medien und Wirtschaft"; "für | |
unsere Regierung im Land bei der Beurteilung des Islam"; und dafür, "dass | |
unser Land und die Gesellschaft wieder mehr von christlichen Werten und der | |
christlichen Botschaft geprägt werden". | |
Immer lauter mischen sich die Evangelikalen in Debatten und Wahlkämpfe ein, | |
bombardieren Politiker mit Briefen und Fragen. "Sind Sie bereit, die | |
Propagierung familienzerstörender Elemente in den Medien gegebenenfalls | |
auch durch gesetzliche Schutzmaßnahmen zu vermindern?", heißt es in einem | |
Wahlfragebogen, den der Evangelikalen-Dachverband "Deutsche Evangelische | |
Allianz" an die Politik richtet. Die Evangelikalen betreiben ein ganzes | |
Netzwerk aus Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Fernsehsendern und | |
Radiostationen, sie beschäftigen eigene Lobbyisten und PR-Kräfte. "Wir | |
haben derzeit so viele Chancen, uns selbst in den Medien darzustellen, wie | |
nie zuvor", jubelte im Dezember der Evangelikalen-Funktionär Thomas | |
Schirrmacher. | |
Es sind nunmehr fast eineinhalb Millionen Evangelikale, die sich unter dem | |
Dach der "Deutschen Evangelischen Allianz" versammeln. Manche Schätzungen | |
kommen sogar auf bis zu 2,5 Millionen Evangelikale in Deutschland. Hunderte | |
neue freikirchliche Gemeinden, die dem evangelikalen Spektrum zugerechnet | |
werden, haben sich in den vergangenen Jahren gegründet. Viele von ihnen | |
sind deutlich radikaler als die klassischen Freikirchen, die oft bereits im | |
19. Jahrhundert entstanden sind. Dazu kommt eine unübersichtliche Zahl von | |
Bibelhauskreisen, missionarischen Zentren, evangelikalen Vereinen und | |
Sozialeinrichtungen - von Drogentherapiegruppen auf Bauernhöfen bis zu | |
Armenspeisungen in den Städten. | |
Seit wenigen Wochen haben die Evangelikalen auch eine staatlich genehmigte | |
Hochschule, die Freie Theologische Hochschule in Gießen, die vorher | |
lediglich den Status einer Akademie hatte. Als "Durchbruch für die | |
Evangelikalen in Deutschland" hat deren Rektor das gefeiert. Die Grundlage: | |
die 1978 aufgestellte Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel. | |
Auch wenn die Bewegung alles andere als einheitlich ist: Wer das | |
evangelikale Deutschland bereist, von Berlin bis Stuttgart-Feuerbach, von | |
Leipzig bis ins hessische Werratal, erfährt rasch, was sie verbindet: Es | |
ist der Widerstand gegen einen Zeitgeist, den sie als dekadent und gottlos | |
empfinden. Die Evangelikalen stemmen sich gegen Emanzipation und | |
Evolutionslehre, Pornografie, Homosexualität und den Islam. Sie geben sich | |
proisraelisch - und missionieren dennoch auch unter Juden. Denn in ihren | |
Augen wird nur errettet, wer Jesus als den Messias anerkennt. | |
Doch so sehr sich die Evangelikalen um Einfluss bemühen, einem religiösen | |
Rollback sind enge Grenzen gesetzt. Deutschland, eine heilige christliche | |
Nation? Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Und das ist ihre | |
heimliche Tragödie: Eine pluralistische Gesellschaft hält die Evangelikalen | |
aus - sie sind es, die an ihr verzweifeln. | |
An den Wänden des Konferenzraums eines Büros in Leipzig hängen Zeichnungen | |
von Einfamilienhäusern, Pläne von Wohngebieten, Prospekte. "Letzter | |
Bauabschnitt in Engelsdorf", steht auf einem, "Nutzen Sie Ihre Chance!" Ein | |
Mittfünfziger mit Bart und Brille betritt den Raum, zur Krawatte trägt er | |
eine silberne Nadel. "Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch", steht auf seiner | |
Visitenkarte. Er ist der Chef des Planungsbüros im Leipziger Süden. Und | |
Diakon in der Freien evangelischen Gemeinde Leipzig. | |
Das Projekt, das Steinbruch heute präsentiert, hat nichts mit Häusern zu | |
tun. Es geht um den biblischen Erlebnispark: das Genesis-Land. Die Idee | |
stammt von schöpfungsgläubigen Schweizern. Kreationisten. Eigentlich | |
wollten sie den Park im Raum Heidelberg bauen, bekamen aber im Sommer eine | |
Abfuhr von Stadt und Region. Doch ihre millionenteuren Pläne wollen sie | |
nach wie vor umsetzen. Nur wo? Ginge es nach Steinbruch, würde der | |
Bibelpark in Ostdeutschland gebaut. "Das ist praktisch Diaspora", sagt er | |
in leichtem Sächsisch. Christliche Diaspora. | |
Zeitreise durch die Geschichte der Menschheit, von der Schöpfung bis zur | |
Vollendung", steht auf einem Katalog, der auf dem Konferenztisch liegt. | |
Darin sind die Grundsätze des Parks festgehalten: Es solle ein Ort | |
entstehen, "an dem der biblische Bericht als historische Tatsache | |
interpretiert und dargestellt wird". Was das heißt, steht dort auch: Das | |
Erdzeitalter wird auf 6.000 bis 10.000 Jahre veranschlagt. An anderer | |
Stelle heißt es: Dinos und Menschen lebten einst gemeinsam auf der Erde - | |
schließlich erinnerten die Beschreibungen des Behemot und des Leviathan im | |
Buch Hiob an Dinosaurier. Ein Faltplan zeigt eine Übersicht über den Park. | |
In der Mitte: die Arche Noah. Auch sie soll so gebaut werden, wie es in der | |
Bibel steht, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit, 30 Ellen hoch. | |
Steinbruchs Team hat mehrere Elemente des Parks entworfen. So auch den | |
Pavillon "Feuer", der die Johannesoffenbarung darstellen soll. Die | |
Apokalypse. Steinbruch schiebt eine DVD in den Laptop. Ein langgezogenes | |
Gebäude ist zu sehen. "Komm herauf und ich werde dir zeigen, was nach | |
diesem geschehen muss", sagt eine Stimme. Feuer. Schreie. "Den Abschluss | |
der großen Trübsal erlebt der Besucher durch das Zerfallen des Universums", | |
sagt die Stimme. Man sieht die Weltkugel. Ein Knall. Dunkelheit. | |
Schließlich gelangt man in den Raum des Jüngsten Gerichts. An dieser | |
Stelle, so die Stimme, werden "Lasermenschen" erscheinen. Ein Teil stürzt | |
in einen Feuersee. Der Rest gelangt in die neue Welt. Das Neue Jerusalem. | |
Nach sechs Minuten endet der Film. | |
Glaubt Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch all das? Glaubt er an das baldige Ende? | |
Steinbruch zögert, druckst herum, schließlich antwortet er: Die Zeichen | |
seien nicht zu übersehen. Die Pole schmelzen, das Wetter verändere sich, | |
Naturkatastrophen nehmen zu. Keiner sei mehr für die Ehe, es werde in losen | |
Partnerschaften gelebt, von Homosexualität ganz zu schweigen. "Der | |
Zeitgeist an sich, die ganzen Lebensinhalte", sagt Steinbruch. "Das ist ein | |
endzeitliches Verhalten." | |
Ein Wohnhaus im Norden des Berliner Bezirks Neukölln, es ist November. | |
"Kommunismus" hat jemand auf die Fassade gesprüht. Im ersten Stock haben | |
sich gut zwanzig amerikanische und deutsche Twens versammelt. Zwei Tage ist | |
es her, dass in den USA Obama die Wahl gewonnen hat, zwei Drittel der unter | |
30-Jährigen haben ihn gewählt. Aber hier ist von Obamanie nichts zu spüren. | |
Ein Twen aus Obamas Heimatstadt Chicago sagt, er habe gegen ihn gestimmt. | |
Wegen dessen liberaler Haltung zur Abtreibung. Dan (28) aus Michigan setzt | |
sich vor die Gruppe, er trägt T-Shirt, Jeans und weiße Nike-Socken. Er | |
liest aus der Bibel, Psalm 23, ein deutscher Student übersetzt.: "Und muss | |
ich auch durchs finstere Tal, ich fürchte kein Unheil." Danach gibt es | |
Popcorn, Tortilla-Chips und Jesus-Lieder: "Denn ich bin sein und er ist | |
mein, mit seinem Blut macht er mich rein." | |
Wenn man so will, ist Dan ein Missionar im Praktikum, ein evangelikaler | |
Entwicklungshelfer. "Campus Crusade for Christ" heißt die evangelikale | |
Organisation, die ihn und ein Dutzend weitere US-Amerikaner für ein Jahr | |
nach Berlin geschickt hat. Crusade, das heißt übersetzt Kreuzzug. | |
Mehr als 1.000 Hochschulgruppen zählt "Campus Crusade" in den USA. Das | |
deutsche Pendant "Campus für Christus" ist bisher an rund zwanzig | |
Hochschulen vertreten. Die Bewegung sei zwar auch in Deutschland stark, | |
aber bisher noch "very underground", sagt Dan. Wer seine Gruppe beobachtet, | |
wie sie an der Technischen Universität in Berlin Jesus-DVDs und Broschüren | |
über Gottes Plan für unser Leben anpreist, weiß, was er meint. Fast alle | |
ignorieren den Stand vor der Mensa einfach nur. "Die meisten Studenten | |
können wahrscheinlich ihre ganze Unizeit hinter sich bringen, ohne ein | |
Gespräch mit jemandem zu haben, der wirklich an Jesus glaubt", sagt Dan. | |
Aber genau deshalb ist er ja hier. | |
Der Rohbau eines Autowasch-Centers in Stuttgart, umgeben von Autohäusern | |
und Tankstellen. Gleich dahinter: das "Gospel Forum". Der knapp zwanzig | |
Meter hohe Flachdachbau ist eine Mischung aus Mehrzweckhalle und | |
SB-Möbelmarkt. Viel Glas. Viel Beton. Helles Holz. Lüftungsrohre an der | |
Hallendecke. Das "Ikea der Evangelikalen" hat man es schon genannt. | |
Neuankömmlinge bekommen Gummibären in Herzform. Und einen Gutschein für ein | |
Erfrischungsgetränk. Man gibt sich offen, nach außen hin modern. Zu Beginn | |
des Gottesdiensts spielt eine Soft-Rock-Band. Nach wenigen Takten recken | |
die ersten Besucher die Arme in die Höhe. Die Halle ist voll, selbst auf | |
der Empore bleibt kaum ein Stuhl leer. Pastor Wenz trägt ein | |
fliederfarbenes Hemd zur dunklen Anzughose, als er an diesem Sonntag im | |
November vor seiner Gemeinde steht. "Gott sprach gerade zu meinem Herzen, | |
jemand wird jetzt geheilt an seiner Bauchspeicheldrüse", ruft Wenz über ein | |
Soundbett aus Orgel und Gitarre. "Die Ärzte werden es bestätigen!" | |
Göttliche Wunder auf der einen, dämonische Mächte auf der anderen Seite: | |
Hier in Stuttgart-Feuerbach glaubt man fest daran. Am Abend zuvor war ein | |
italienischer Gastprediger da. Am Ende seines Heilungsgottesdiensts kommen | |
die Besucher nach vorne, auf Krücken, in Rollstühlen, gestützt von | |
Angehörigen. Eine Familie bringt ihr schwer krankes Kleinkind. Der Prediger | |
drückt ihm die Hand auf den Kopf: "By the power of god, be healed." | |
Peter Wenz und seine Biblische Glaubensgemeinde (BGG) gehören zur | |
charismatisch-pfingstlerischen Strömung des Christentums, jenen | |
Evangelikalen, die besonders viel Zuwachs verzeichnen. Ihr Ziel: Eine | |
"persönliche Beziehung" zu Gott aufzubauen - wie auch immer das | |
funktioniert. Wenz selbst habe bis 1978 ohne eine solche Beziehung zu Gott | |
gelebt, erzählt er später in einem Hinterzimmer. Dann erlebte er seine | |
Wiedergeburt. Er war damals zwanzig Jahre alt und angehender Zeitsoldat. | |
Heute ist er ein Soldat des Herrn. | |
Einer, der die Öffentlichkeit nicht scheut. Im September 2006 durfte Wenz | |
in Sabine Christiansens TV-Talk über ein Thema diskutieren, mit dem er sich | |
auskennt: Wann wird aus Frömmigkeit Fanatismus? | |
"Sex: Gottes Wahrheit" heißt ein Ratgeber, den Frauen an einem Stand im | |
Foyer verkaufen. Dort werden vorehelicher Sex und Oralverkehr als Werk des | |
Teufels bezeichnet. Onanie? Führt in dämonische Abhängigkeit. Jugendliche | |
stehen im Foyer, albern herum. Sie hatten gerade Teeniebibelschule. "Allah | |
ist mächtig, Allah ist groß", ruft einer. "Ein Meter siebzig und | |
arbeitslos." | |
Über den "Charisma Shop" ist auch eine Predigtreihe zum Thema "Sexualität | |
im Licht der Bibel" als CD-Set zu beziehen. "In der Bibel steht alles genau | |
drin", ruft Pastor Wenz auf der Aufnahme. "Gott will den Mann männlich und | |
die Frau will er weiblich." Aus der Gemeinde hört man ein lautes "Ameeen". | |
Später doziert Wenz über Homosexualität. Seine Stimme hebt an: "Wenn jemand | |
hier ist heute, der homosexuell gebunden ist: Du sollst frei werden durch | |
den Kraftstrom des Heiligen Geistes." | |
ie Gemeinde radikalisiere sich in Richtung "eines protestantischen | |
Fundamentalismus US-amerikanischer Prägung", schrieb der | |
Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Landeskirche Württemberg schon | |
vor gut acht Jahren. Wenige Monate später öffnete das "Gospel Forum". | |
Solche Kritik wischt Wenz weg. Es gebe immer Neider, sagt er. Er wähnt sich | |
auf der richtigen Seite. Als Teil einer weltweiten Bewegung, die wächst und | |
wächst und wächst. Unter ihm ist um die Gemeinde eine Art | |
sozial-moralisches Milieu herangewachsen, vergleichbar mit dem | |
sozialdemokratischen Arbeitermilieu im 19. Jahrhundert. Oder dem | |
katholischen Milieu in den 20ern und 30ern. Zur Gemeinde gehört der | |
"Christliche Sportverein Stuttgart 1999 e. V.". Eine eigene Kita. Eine | |
Pfadfindergruppe. Seniorentreffs. Von der Wiege bis zur Bahre: evangelikal. | |
Rosemarie D. (42) steht im Garten ihres Hauses in Archfeld im Werratal, ein | |
Dorf am äußersten Rand Hessens. Sie trägt einen langen Rock und ein blaues | |
Kopftuch, das mit Spangen an ihren blonden Haaren befestigt ist. Auf dem | |
Arm hält sie die knapp ein Jahr alte Sulamith. Noah (5) und Jeremia (8) | |
werfen sich gegenseitig einen Gummiring zu. "Hochwerfen und dann | |
auffangen", ruft die Mutter. Sportunterricht. Zwischen Gemüsebeet und | |
Gartenteich. | |
Einige Meter weiter steht eine Wäschespinne. Darauf hängt ein T-Shirt, das | |
einem der sieben Kinder gehört. Der Aufdruck lautet: "Ich bin ein | |
Meisterwerk Gottes." Am Gartentor steht auf einem Holzschild: "Herr, Gott, | |
du bist unsere Zuflucht für und für". | |
Ende der 90er-Jahre haben sich Rosemarie und Jürgen D. in das | |
150-Seelen-Dorf zurückgezogen, in ein altes Bauernhaus mit knarzenden | |
Dielen und niedrigen Decken. Hier können sie leben, wie sie wollen. Oder | |
eher: so leben, wie Gott es will. So dachten sie zumindest bis vor kurzem. | |
Rosemarie und Jürgen D. weigern sich seit Jahren, ihre Kinder in eine | |
Schule zu schicken. Sie wollen nicht, dass jemand anderes die Kinder | |
unterrichtet als sie, die Eltern. Das Landgericht Kassel hat die beiden im | |
Sommer deshalb zu je drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Familie ging in | |
Revision, mit Erfolg, an Heilig Abend kam der Bescheid. Nun muss der Fall | |
neu verhandelt werden. Ausgang: ungewiss. | |
500 bis 1.000 sogenannter Homeschooling-Familien gibt es in Deutschland. | |
Eine Entwicklung, die der Staat eigentlich unterbinden will. Die Entstehung | |
von "Parallelgesellschaften" müsse verhindert werden, heißt es in den | |
Urteilen hoher Gerichte. | |
Parallelgesellschaft? Eine hessische Christenfamilie? | |
Zum Klassenzimmer geht es den Flur entlang links. Dort steht eine kleine | |
Schultafel, an der Wand hängt eine Weltkarte. Daniel (12) und Lukas (14) | |
sitzen an ihren Schreibtischen. Sie haben Unterricht beim Vater. Lukas | |
lernt Geschichte, Daniel Englisch. "She teaches. She ist das Subjekt", | |
erklärt Jürgen D. Jeden Tag von sieben bis dreizehn Uhr ist Unterricht. Am | |
Nachmittag dann verdient der studierte Politologe Geld mit | |
Nachhilfeunterricht. Viel dürfte dabei nicht zusammenkommen. Aber auf | |
irdische Reichtümer gibt die Familie sowieso nicht viel. | |
Am Ende der Stunde vermerkt der Vater, was die Kinder gelernt haben. | |
Englisch, Relativsätze, schreibt er in Daniels Ordner. In einem anderen | |
Ordner, den er hervorkramt, hat er die Lehrpläne Thüringens abgeheftet, an | |
denen er sich grob orientiere. "Das hat alles Hand und Fuß." | |
Hat es das wirklich? Auf dem Schreibtisch liegen Stifte der | |
fundamentalistischen "Partei Bibeltreuer Christen", die bei den letzten | |
Bundestagswahlen knapp 110.000 Stimmen bekam. In den Regalen stehen | |
Dutzende von alten Schulbüchern. Gängige Lehrwerke von Klett oder | |
Diesterweg, wenn auch teils aus den Siebzigern. Im Regal mit den | |
Biologiebüchern steht jedoch ein neueres Buch: "Evolution. Ein kritisches | |
Lehrbuch", die bekannteste deutsche Kreationistenfibel. Einen Raum weiter | |
steht "Die Evolutions-Lüge". Ein Buch, in dem es gleich zu Beginn heißt: | |
"Aus einem Affen wurde nie ein Mensch!" | |
Ist das der Grund, warum Familie D. ihre Kinder nicht in die Schule | |
schicken wollen? Weil sie ihnen Darwin nicht zumuten wollen? Die | |
Erkenntnisse jenes Mannes, dessen 200. Geburtstag die Welt im Februar | |
feiert? | |
Jürgen D. sitzt nach dem Unterricht in der kühlen Stube, der Holzofen ist | |
an diesem Herbsttag noch nicht in Betrieb. Er trägt einen grauen Pulli, | |
schwarze Jeans und braune Sandalen. "Der Glaube an Gott, an Jesus Christus, | |
was spielt der denn noch für eine Rolle? Man wird als Christ ja heute fast | |
schon belächelt", sagt er. Er kramt eine Schrift hervor, die er zusammen | |
mit seiner Frau verfasst hat: "Jonathans Werdegang als Hausschüler". Er | |
will damit zeigen, wie gut die Kinder lernen. Darin ist nachzulesen, wie | |
der älteste Sohn nach Jahren des Hausunterrichts kurz die Realschule | |
besuchte und mit einem Notenschnitt von 1,1 abschloss. Gerade hat Jonathan | |
(16) eine Schreinerlehre angefangen. Ein Handwerksberuf. Wie Jesu Vater | |
Josef, der Zimmermann. | |
Es ist still geworden im Haus, trotz der sieben Kinder. Auch von draußen | |
dringt kein Autolärm herein. Man hört keine Handys, keine Gameboys, keinen | |
Fernseher, kein Radio. All das wollen die Eltern von ihren Kindern | |
fernhalten.Was ist mit Sexualkunde? Die Frage lässt Jürgen D. unruhig | |
werden. Dies sei kein Thema, das man im Unterricht explizit behandeln | |
müsse, sagt er. Aber die Kinder bekämen ja alles mit. Wenn der Hahn die | |
Henne auf dem Hof besteigt zum Beispiel. | |
Rosemarie D. sitzt in der Küche, bereitet das Essen vor, Nudeln mit | |
Tomatensalat. "Lieber drei Monate Gefängnis für uns Eltern als jahrelanges | |
Gefängnis in der Schule für die Kinder", sagt sie. In der Schule seien der | |
Manipulation Tür und Tor geöffnet. "Da kommen irgendwelche Modeströmungen | |
rein und bestimmte Meinungen werden verfestigt." Was genau sie damit meint? | |
"Das, was der Zeitgeist eben gerade diktiert." | |
Auf dem Weg zum Bahnhof erzählt Jürgen D. von den Christenverfolgungen im | |
Römischen Reich. Und davon, wie heute weltweit Christen unterdrückt würden. | |
In China. Nordkorea. Was er nicht sagt, aber wohl meint: Inzwischen ist es | |
auch hier schon so weit. Verbitterung klingt in seinen Worten mit. Übers | |
Auswandern haben sie nachgedacht, aber das Geld fehlt. | |
Die Familie als christliche Eiferer zu betrachten, ist die eine | |
Möglichkeit. Man kann es aber auch so sehen: Vor hundert Jahren wären | |
Jürgen und Rosemarie D. in Deutschland kaum aufgefallen. Im 21. Jahrhundert | |
aber wirken sie wie aus der Zeit gefallen. | |
"Gott hat uns diesen Weg gezeigt", sagt Jürgen D. zum Abschied. Dem | |
Besucher drückt er ein Glas Honig in die Hand, von den eigenen Bienen. Und | |
ein Neues Testament. | |
Wolfgang Baake (58) bewegt seinen wuchtigen Körper in das Café Einstein in | |
Berlin, Unter den Linden, nur wenige hundert Meter vom Bundestag entfernt. | |
Ein Treffpunkt von Politikern, Journalisten, Lobbyisten. An den Wänden | |
hängen Fotos von Genscher und Clinton. Baake ist so etwas wie der | |
Cheflobbyist der deutschen Evangelikalen. Er nennt sich "Beauftragter am | |
Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung". Seine | |
Organisation, die "Deutsche Evangelische Allianz", findet sich auf der | |
Lobbyliste des Bundestags auf Platz 744 von 2051, kurz nach der Deutschen | |
Dystonie Gesellschaft. Baakes Themen sind der Schutz von Ehe und Familie, | |
Abtreibung, Sterbehilfe. "Wir müssen dahin zurück, wo unsere Gesellschaft | |
herkommt", sagt Baake zum Frühstück. | |
enn er sich öffentlich zu Wort meldet, verteidigt Baake zum Beispiel | |
Lehrer, die im Biologieunterricht die Schöpfungslehre unterrichten. Oder er | |
kritisiert das ZDF aufgrund der Filmreihe "Sommernachtsfantasien". Für ihn | |
ist diese dem Thema Erotik verpflichtete Reihe nichts anderes als | |
"praktizierte Pornografie". Lange hat das, was er sagt, nur wenige | |
interessiert. Im Dezember aber verlangte Baake den Rücktritt des Chefs der | |
Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger - und hatte damit fast | |
Erfolg. Streitpunkt war ein Text in einer bundesweiten Schülerzeitung, in | |
dem die jugendlichen Autoren die Evangelikalen heftig kritisierten. Die | |
Zeitung wird von der Bundesbehörde mitfinanziert. Auf Druck von bibeltreuen | |
Christen und aus der Politik distanzierte sich Bundeszentralenchef Krüger | |
von dem Schülerheft - und von einem Begleitschreiben, in dem er selbst | |
Islamisten und evangelikale Gruppen verglichen hatte. Es ist zwar nur ein | |
kleiner, aber doch bemerkenswerter Sieg für die Evangelikalen. Und für | |
Baake. | |
Ein Foto vom März des Jahres 2007 zeigt ihn und andere Vertreter der | |
deutschen Evangelikalen im Berliner Bundeskanzleramt. Neben der | |
Pfarrerstochter Angela Merkel. Es sei ein sehr interessantes Gespräch | |
gewesen, erinnert sich Baake an diesem Freitag im Herbst. Was sie denn | |
Interessantes miteinander besprochen haben? "Vertraulich." Nach dem | |
Frühstück will Baake an diesem Tag noch Abgeordnete von Union und FDP | |
treffen. Wen genau, sagt er wiederum nicht. Einen "Funktionär der | |
Fundamentalisten" hat ihn die konservative Welt einmal genannt. | |
Aber ist Baake das? Ein Fundamentalist? "Was ist besser, als auf einem | |
Fundament zu stehen?", fragt Baake am Ende des Gesprächs zurück. "Dem | |
Fundament der Bibel?" | |
10 Jan 2009 | |
## AUTOREN | |
Wolf Schmidt | |
Wolf Schmidt | |
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Schule | |
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