# taz.de -- Erdbebenvorsorge: Wenn Istanbul bebt | |
> Nach einem verheerenden Erdbeben in der Nähe Istanbuls vor 18 Jahren | |
> fühlen sich die Menschen in diesem Gebiet nicht ausreichend geschützt. | |
Bild: Nach dem Erdbeben im September 1999 | |
Mit einer Stärke von 7,6 bebte in der Nacht des 17. August 1999 die Erde im | |
Epizentrum Gölcük in der Marmararegion. Offiziellen Angaben zufolge kamen | |
bei einem der schwersten Erdbeben der Türkei 18.000 Menschen ums Leben. | |
Nach den Zerstörungen wurde eine Stadterneuerung gegen das Erdbebenrisiko | |
eingeleitet. Doch statt die Gebiete zu sanieren, die bei einem eventuellen | |
Beben besonders stark betroffen sein würden, konzentrierte man sich auf | |
Gegenden mit hoher Rendite und niedrigem Erdbebenrisiko. | |
Nach dem Regierungsantritt der AKP 2002 wurde die unter dem Label | |
„Erdbebenrisiko“ eingeleitete Stadterneuerung vor allem als Instrument | |
benutzt, um AKP-nahen Bauunternehmern Rendite zuzuschanzen. Seismologen | |
zufolge sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Erde in der Marmararegion in | |
naher Zukunft erneut so stark beben könnte, sehr hoch. | |
Inwieweit hat die Stadt Istanbul sich, die ebenfalls im Erdbebengebiet | |
liegt, auf ein kommendes Erdbeben vorbereitet? Beim Blick auf die Karte der | |
aktuellen Risikogebiete von Istanbul des Umwelt- und Städtebauministeriums | |
fallen zwei Punkte auf: Die vom Ministerium unter dem Vorwand als | |
„Risikogebiet“ ausgewiesenen Orte sind genau jene Viertel, die der Staat | |
als „Gefährder“ betrachtet und diskriminiert. | |
Dort leben Menschen, die ideologisch anders denken als von der Regierung | |
gewünscht. In diese Kategorie fallen Bezirke sowohl auf der europäischen | |
Seite als auch auf der asiatischen Seite und sind Gebiete und sind | |
klassische Arbeiterviertel, die derzeit von der Gentrifizierung betroffen | |
sind. So wie Sarıyer/Derbent und Armutlu, Okmeydanı, Fikirtepe und Kanarya. | |
## Statt sanfter Erneuerung: rentable Stadterneuerung | |
Der zweite Punkt betrifft wertvolle Gebiete, die hohe Rendite bringen | |
können. Die dort neu errichteten Gebäude werden weit über Wert verkauft, | |
wie Etiler, Beyoğlu oder Kadıköy. In den meisten der Bezirke, die wegen | |
vermeintlichem Erdbebenrisiko unter die Stadterneuerung fallen, wurden | |
mehrstöckige Wohngebäude und Hotels hochgezogen, deren Kosten sich auf | |
mehrere Milliarden Lira belaufen. Unter diesen Projekten stehen die Namen | |
von regierungsnahen Unternehmen. | |
Hüseyin Sağ, der für die CHP im Stadtparlament von Istanbul sitzt, erklärt | |
die Vorgänge folgendermaßen: „Das Wort Stadterneuerung klingt super, was | |
aber tun die Umsetzenden unter dem Etikett Stadterneuerung tatsächlich? Von | |
den wenigen rentablen Immobilien im Stadtzentrum werden die ursprünglichen | |
Eigentümer vertrieben, ihre Grundstücke aufgekauft. Mit der öffentlichen | |
Hand kann Ihr Wohngebiet über Nacht zur Risikozone erklärt werden und für | |
sie beginnt damit die Vertreibung aus dem Stadtzentrum in die | |
Außenbezirke.“ | |
Die Unternehmer sorgten dafür, dass die Änderung des Bebauungsplans im | |
Stadtrat auf die Tagungsordnung kommen. Auf diese Weise gelangten sie – | |
trotz negativer Gutachten – zur Abstimmung im Stadtrat und findige | |
Bauunternehmer mit Stimmenmehrheit an ihre Rendite. „Priorität haben die | |
Bebauungsrendite, nicht das Erdbebenrisiko“, so Sağ. | |
## Risikogebiete in der Warteschleife | |
Die Gebiete mit Erdbebenrisiko ersten Grades, die auf den von der Regierung | |
2011 mit dem Ziel „10 Millionen Wohnungen in 10 Jahren“ aufgestellten | |
Stadterneuerungsplänen ausgewiesen sind, werden ausgelassen. In den | |
Risikozonen zweiten Grades aber laufen die Bauarbeiten längst. Das deckte | |
die Internationale Agentur für Zusammenarbeit Japan (JICA) mit ihrer | |
Studien zum Erdbebenrisiko in Istanbul auf. Zwischen der Karte der von JICA | |
im vergangenen Jahr festgestellten Risikogebiete und der | |
Erdbeben-Hauptrisiko-Karte für die Stadterneuerung vom Ministerium besteht | |
ein eklatanter Unterschied von über 70 Prozent. | |
Im Bericht des Ministeriums zeigt sich, dass mit der Stadterneuerung nicht | |
in den am stärksten gefährdeten Gebieten begonnen wurde, sondern in Zonen | |
geringen Risikos. In den Kreisen auf dem Erdbebengürtel ersten Grades | |
finden laut Bericht keine oder nahezu keine Risikozonenarbeiten statt. | |
Auffällig ist, dass die als Risikozonen ausgewiesenen Bezirke im | |
Stadtzentrum in Gebieten mit hohem Wohnwert liegen. Laut Bericht ergab die | |
Analyse für ein Gebiet von 9 Millionen Einwohnern für ein Erdbeben der | |
Stärke 7,5 oder 7,7 in Istanbul folgendes Szenario: | |
-bis zu 60.000 stark beschädigte Gebäude | |
-etwa 600.000 obdachlose Familien | |
-ca. 90.000 Toten und 130.000 Schwerverletzte | |
-etwa 50 Millionen Tonnen Schutt | |
-rund 40 Milliarden US-Dollar finanzieller Verlust | |
-und ein Rettungseinsatz für eine Million Menschen. | |
## Bereits jetzt hat Istanbul Probleme | |
In den hochwertigen Quartieren im Stadtzentrum kämpfen die Menschen seit | |
Jahren darum, ihre Häuser und Wohnungen nicht zu verlieren. Dennoch lässt | |
das Kapital sie nicht in Ruhe. Auf der Karte des Ministeriums fällt auf, | |
dass in Beşiktaş nur der Bezirk Etiler und in Beyoğlu nur das | |
İstiklal-Quartier als gefährdet ausgewiesen sind.Zudem ist auf der Karte | |
des Ministeriums zu sehen, dass einige der als Risikozonen ausgezeichneten | |
Gebiete in Istanbul nahe an Autobahnen liegen. Manche als gefährdet | |
ausgewiesene Gebiete umfassen noch nicht einmal ganze Viertel. | |
Auf dem Naturkatastrophen-Not-Aktionsplan für Istanbul, aufgestellt nach | |
dem Erdbeben 1999, sind 493 Freiflächen als Sammelplätze vorgesehen. | |
Stillschweigend wurden drei Viertel dieser Plätze zur Bebauung freigegeben. | |
Meist wurden sie mit Einkaufszentren und Hochhäusern bebaut. Die | |
betroffenen Berufsverbände bemühen sich derzeit, eine aktuelle Karte zu | |
erstellen, kommen aber nur mit extremer Mühe an Informationen. Die meisten | |
der als Sammelplätze bei Erdbeben vorgesehenen Freiflächen wurden vom | |
Umwelt- und Städtebauministerium zur Bebauung freigegeben. | |
Der Vorsitzende des Bauingenieurverbands im Dachverband der türkischen | |
Ingenieurs- und Architektenkammern TMMOB, Cemal Gökçe sieht bereits jetzt | |
die Folgen der unzulässigen Bebauung: „Die Stadterneuerungsmaßnahmen | |
schaffen neue Probleme: alles wird einbetoniert, was zur Fiolge hat, dass | |
die Erde kein Regenwasser mehr aufnehmen kann. Überflutungen und | |
Wassereinbrüche bedrohen Istanbul. Die Luftverschmutzung ist gestiegen. | |
Wolkenkratzer verstellen den einfallenden Winden den Weg. Der Stadt bleibt | |
die Luft weg.“ | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
15 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Hazal Ocak | |
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