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# taz.de -- Ein Jahr nach dem Mord im Gericht: Die Lehren aus Marwa El Sherbini…
> Ein Jahr nach dem ersten islamfeindlichen Mord in Deutschland sind viele
> politisch Aktive ernüchtert. Doch die Tat hat auch etwas in Bewegung
> gebracht. Die Zeit des Unter-sich-Bleibens ist vorbei, heißt es in ihrem
> Viertel.
Bild: Drei Männer hängen vor gut einem Jahr ein Plakat der Ermordeten ans Rat…
DRESDEN taz | Tony Hyman ringt immer noch um Fassung, wenn er über sie
spricht. Auch ein Jahr später kann er kaum glauben, was der Familie seines
ägyptischen Doktoranden Elwy Okaz widerfahren ist. Okaz, der jetzt in
England lebt, weit weg von dem Ort, an dem seine schwangere Ehefrau Marwa
El Sherbini ermordet wurde, im Dresdner Landgericht, vor den Augen ihres
dreijährigen Sohnes.
Hyman blickt aus dem Fenster seines Büros im Max-Planck-Institut für
Molekulare Zellbiologie und Genetik, das er gemeinsam mit anderen leitet.
Im Park unterhält sich eine Doktorandin aus Singapur mit zwei
Amerikanerinnen, ein marokkanischer Kollege ruft etwas auf Englisch. Es
sind nur zwanzig Minuten Fußweg von hier bis zu dem Ort, an dem El Sherbini
wohnte - schräg gegenüber ihr Mörder, Alex W. Sie lebt nicht mehr, weil er
Muslime hasst.
Ein Jahr nach der Tat sind viele Dresdner immer noch schockiert, dass so
etwas bei ihnen passieren konnte. Im Kontrast mit dem multikulturellen
Max-Planck-Institut erscheint es geradezu unwirklich. Hyman, ein Brite,
möchte, dass Dresden internationaler wird. Alle sollen verstehen, dass die
Dresdner Wirtschaft von Ausländern abhängig ist. Deshalb hat sich Hyman im
Mai in den Ausländerbeirat wählen lassen. Er fühlt sich wohl hier, doch
wenn er an El Sherbini denkt, zweifelt er an seiner Entscheidung von vor 12
Jahren, das Institut gerade in Dresden aufzubauen. Das Gefühl, deswegen für
ihren Tod mitverantwortlich zu sein, lässt ihn nicht los.
Diejenigen, die viel eher beschuldigt werden könnten, mitverantwortlich zu
sein für ihren Tod, lassen solche Gewissenskonflikte kaum erkennen: die
politisch Verantwortlichen für Dresden, Sachsen, Deutschland, die mit
zugelassen haben, dass sich eine Atmosphäre entwickelt, in der so eine Tat
möglich wird. Oder auch das Landgericht Dresden, an dem der Mörder
bewaffnet in den Gerichtssaal kommen konnte. Mittlerweile steht am Eingang
eine Sicherheitsschleuse. Sie steht dort wie ein Eingeständnis, dass sie am
Tag des Mordes gefehlt hat - sodass Alex W. ein 18 Zentimeter langes Messer
mitbringen konnte, mit dem er El Sherbini ermordete.
Die Sicherheitsschleuse ist eines der wenigen Dinge, die sich in Dresden
seit der Tat verändert haben. Ein anderes ist die Gedenktafel in der
Eingangshalle des Landgerichts, die ab diesem Donnerstag auf Deutsch und
Arabisch an den Mord erinnert.
"Symbole sind positiv, aber durch sie ändert sich nichts an der
Integrationspolitik", sagt Inam Sayad-Mahmood. Als stellvertretende
Vorsitzende des Ausländerrates ist sie enttäuscht von dem, was die Stadt
Dresden bislang an Konsequenzen aus dem Mord gezogen hat. Ein
Handlungsprogramm gegen Rassismus, dem noch keine Handlung folgte. Ein
Positionspapier der Migrantenorganisationen, auf das es kaum eine Reaktion
gab. Die Bekämpfung von Rassismus steht auf der Tagesordnung, aber nicht
sehr weit oben. Neun Monate dauerte es, bis die Oberbürgermeisterin Helma
Orosz den Frauentreff im Stadtteil Johannstadt besuchte, der wegen des
Mordes entstand.
Wenn sich wirklich etwas getan hat, dann hier, nur ein paar Häuser entfernt
von der Wohnung, in der El Sherbini lebte. Im buntbemalten Haus des
Johannstädter Kulturtreffs sitzen einmal pro Woche Frauen aus der
Nachbarschaft zusammen. Anfangs waren es nur muslimische Frauen, besonders
solche, die El Sherbini direkt kannten. Sie sprechen über das Geschehene,
über ihre Fassungslosigkeit, über eigene Diskriminierungserfahrungen.
Ein besonders beklemmendes Gefühl ist es für all jene, die wie damals El
Sherbini Kopftuch tragen und so als Musliminnen erkennbar sind. Als El
Sherbini ihrem späteren Mörder auf einem Spielplatz begegnet, beschimpft er
sie als "Islamistin" und "Terroristin". Sie sagt gegen ihn aus, in der
Berufungsverhandlung sticht er zu. "Nimm dein Kopftuch ab, sonst geht es
dir wie Marwa", wird eine der Frauen ein paar Wochen später auf der Straße
angesprochen.
Heute ist aus dem muslimischen Frauentreff ein interkultureller geworden.
Äthiopierinnen sind dabei, Jüdinnen aus der Ukraine, Vietnamesinnen. "Wir
wollen alle dabeihaben", sagt Sayad-Mahmood. Die Zeit des
Unter-sich-Bleibens ist vorbei.
Die Hoffnung ist, so schnell wie möglich ein Frauenzentrum in Johannstadt
zu gründen, größer, mit eigenen Räumlichkeiten, täglich geöffnet. Ob sie
dafür von der Stadt Unterstützung bekommen - da sind die Frauen skeptisch.
30 Jun 2010
## AUTOREN
Karin Schädler
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