# taz.de -- Das 360-Grad-Modell Gaga: Stand-by-Star zum Schnäppchenpreis | |
> Lady Gaga ist dank Internet ein Superstar neuen Zuschnitts, der weißeste | |
> Popstar, den die USA seit langem hervorbrachten. Und sie brauchte dafür | |
> wenig Zeit. | |
Bild: Das Internet, Fluch der Musikindustrie, ist zum Segen für Lady Gaga gewo… | |
Transmission Gagavision heißt das Internet-Videotagebuch, das Lady Gaga in | |
kurzen Abständen mit jeweils neuen Folgen bestückt: Vier- bis fünfminütige | |
Kurzfilme, die den New Yorker Popstar "hinter den Kulissen" zeigen. In der | |
Pilotfolge quatschend mit einer Tänzerin in der Stretchlimousine auf dem | |
Weg zu einem Konzert. Oder, wie in Folge 41, Backstage beim Schminken. Das | |
Setting ist immer Popbiz-bezogen. Es wird ständig gearbeitet. Dass die | |
25-Jährige dabei auch ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Google" in die Kamera | |
schwenkt - geschenkt. | |
Lady Gaga ist zur wichtigen Werbeträgerin geworden. Sie macht Werbung für | |
die Modemarke Thierry Mugler. Die ihr wiederum Klamotten auf den Body | |
schneidern. Auch für Google hat sie schon mal einen neuen Browser beworben. | |
Die Promotion beruht auf Gegenseitigkeit: Gibt man "Lady Gaga-Video" in die | |
Suchmaschine ein, werden sage und schreibe 378 Millionen Clips gelistet. | |
Der Beliebtheitsgrad lässt sich auch in Zahlen ermitteln. In den fünf | |
Monaten von 2011 wurden die Clips von Lady Gaga alleine auf YouTube von 85 | |
Millionen Usern pro Monat heruntergeladen. | |
Das Internet, Fluch der Musikindustrie alter Schule, ist zum Segen für Lady | |
Gaga, den Popstar 2.0, geworden. Das Netz hat sie 2008 auf einen Schlag zum | |
Weltstar gemacht und steigert ihren Bekanntheitsgrad seither | |
kontinuierlich. Eine Milliarde Mal wurden ihre Videos seit 2008 im Internet | |
angesehen. | |
## Zu viel für Amazon | |
Die freie Verfügbarkeit rechnet sich. Sieben ihrer Songs wurden 2010 | |
hintereinander von mehr als zwei Millionen Menschen in den USA als digitale | |
Fassung gekauft, ein Rekordergebnis. Insgesamt 15 Millionen ihrer beiden | |
ersten Alben wurden bis jetzt weltweit verkauft, dazu 51 Millionen | |
Exemplare ihrer Singles. Ihre Welttournee steht an vierter Stelle bei den | |
Ticketverkäufen. Zum offiziellen Veröffentlichungstermin ihres neuen, | |
dritten Albums "Born this way" am Montag, kam sogar der Server des | |
US-Online-Versandriesen Amazon zum Erliegen. Amazon hatte "Born this way" | |
als Download zum einmaligen Sonderpreis von 99 Cent feilgeboten und | |
versprach den Käufern gratis dazu einen verbesserten digitalen | |
Musikspeicher. | |
Die 25-Jährige New Yorkerin nutzt die Verbreitungsmöglichkeiten aller | |
Online-Plattformen für sich und geht in ihrer eigenen Vermarktung äußerst | |
schnell vor. Sie lebt den interaktiven Popstar vor, alle sechs Wochen zeigt | |
sie sich im Netz mit neuem Aussehen. Und ruft ihre "Little Monster" | |
genannten Fans zu Verkleidungswettbewerben auf. Für die Premium-User ihrer | |
Homepage gibt es besondere Gratifikationen. Auch Social-Media-Kanäle | |
bespielt Lady Gaga mit Verve: 15 Millionen "Freunde" hat sie auf Facebook | |
gesammelt. 10,3 Millionen Follower auf Twitter, so viele wie kein Popstar | |
vor ihr. "Der Barcode auf meinem neuen Album sieht einfach super aus!", | |
teilt sie ihnen in Kurznachrichten mit. Aber auch Anordnungen zum Kauf: | |
"Ihr wisst, was zu tun ist, holt euch mein neues Album bei iTunes." | |
Was das Internet angeht, ist Lady Gaga immer auf Stand-by geschaltet: Macht | |
sie Fotos für ein Magazin, wird die Session sofort gepostet. Von | |
Interviews, die sie gerade gibt, berichtet sie ihren Fans unmittelbar im | |
Anschluss. Während ihrer Konzerte lässt sie twittern, sodass sich Zuschauer | |
immer direkt angesprochen fühlen. "Ihr seid alle Superstars und inspiriert | |
mich", teilt sie ihren Fans mit. In einem Interview mit dem britischen | |
Guardian stellt sie klar, es ginge ihr gar nicht darum, ihr Künstler-Ego | |
aufzupeppen, wichtiger sei, dass ihre Fans lernten, sich selbst zu | |
verehren. Erfolg lasse sich nur am kulturellen Einfluss messen. Aber was | |
könnte der sein, bei einem Popstar, der sich mehr über Daily-Soap-Features | |
im Internet definiert als über Songs? | |
An der Zielstrebigkeit von Lady Gaga ist vieles imponierend. Nicht aber | |
ihre Musik. Die hinkt ihrem protestantischen Arbeitsethos hinterher. Auch | |
"Born this way" ist ein lahmes Stampfe-Album, das sich vor allem im | |
radiofreundlichen Midtempo eingerichtet hat. | |
Obwohl sich Musik und Texte auf den Dancefloor beziehen, benötigt ihr Sound | |
zum Funktionieren Rockklischees: die Jaule-Gitarre von Queen-Gitarrist | |
Brian May etwa ist ebenso Bestandteil wie das Saxofon eines Musikers aus | |
der Begleitband von Bruce Springsteen. Lady Gaga ist der weißeste Popstar, | |
den die USA seit langem hervorgebracht haben. Sie zitiert die Ästhetik von | |
80er-Jahre-Heavy-Metal. Afroamerikanische Einflüsse spielen in ihrer Musik | |
keine Rolle. Stattdessen orientiert sie sich am Dancefloor-Charts-Sound im | |
Europa der Neunziger, von Technotronic bis Dr. Alban; Retorte, die | |
ihrerseits eine Trash-Kopie von US-Dancefloor war. Das einzig überzeugende | |
Lied auf "Born this way", ein Uptempo-Schranztrack mit dem deutschen Titel | |
"Scheiße", deutet aber an, wie gut sie sein kann. | |
## Vehikel der Fans | |
Auf "Scheiße" klingt Lady Gaga wie eine durchgeknallte Easyjet-Touristin, | |
die zu viel an der Crackpfeife auf der Toilette im Berliner Berghain | |
genuckelt hat und größenwahnsinnig wird: "Ill take you out tonight/ Do | |
whatever you like/ Scheiße-scheiße be mine/ Scheiße be mine. Scheiße be | |
mine/ Put on a close night". | |
Auf dem Cover von "Born this way" ist Lady Gaga als ein dem Airbrush-Design | |
nachempfundener Maschinenmensch abgebildet. Kopf und Hände stecken am | |
Chassis eines Chopper-Motorrads. "Ich bin das Vehikel meiner Fans." Genau | |
das ist das Problem. Schöpferische Pausen kennt die Karriere von Lady Gaga | |
keine. | |
Im Gegenteil, mit Hilfe ihrer Dauerpräsenz auf allen Internetkanälen | |
untergräbt sie gerade die gängigen Veröffentlichungszyklen der | |
Musikindustrie. "Ich mache meine Show ohne Unterbrechung", hat sie der New | |
York Times erzählt. Ständig versichert sie sich der Nähe zu ihren | |
Fanmassen. | |
Lady Gaga verkörpert das, was man im Popbiz als "360-Grad-Modell" | |
bezeichnet. Ihre Musik ist eingebettet in eine Vielzahl von | |
Promotion-Tätigkeiten. Vorrangig ist die Beherrschung der die Musik | |
umgebenden Multimedia. Lady Gaga ist ihre eigene Fotoagentur und ihre | |
eigene Fernsehstation, die Reality TV sendet. Auf den Konzerttourneen zahlt | |
sich diese erweiterte Zielgruppenoptimierung aus. Im April beendete sie | |
eine zweijährige Welttour durch ausverkaufte Stadien und Hallen in der | |
Kapazität zwischen 20.000 und 50.000 Zuschauern. | |
Doch das Multitasking hat seinen Preis. Lady Gaga sagt, sie nehme nur an | |
Weihnachten frei. Die Aufnahmen von "Born this way" sind während ihrer | |
US-Tournee 2010 entstanden. Nach den Konzerten fuhr sie in einem Bus mit | |
integriertem Studio und sang unterwegs ihre Texte ein. Die Plattenfirma ist | |
an allen Aspekten ihres Geschäftsmodells beteiligt. 2010 hat Lady Gaga für | |
Interscope/Universal umgerechnet 44 Millionen Euro eingespielt. Nicht nur | |
aus direkten Einkünften. Vor und nach ihren Videos auf YouTube sind | |
bezahlte Werbespots geschaltet. Auch Journalisten, die sich das neue | |
Lady-Gaga-Album "exklusiv" vor der offiziellen Veröffentlichung anhören | |
durften, mussten so vor und nach dem Streaming Werbung für "Müller-Milch" | |
und andere Produkte erdulden. | |
Ähnlich erfolgreiche Künstler wie Madonna oder die Pet Shop Boys haben an | |
ihrem Status jeweils ein Jahrzehnt herumgebosselt. Lady Gaga hat all das in | |
drei Jahren durchlaufen. Das 360-Grad-Modell will es so: nach kurzer | |
Einführung des Popstars müssen schwarze Zahlen im Online-Bereich, auf Tour | |
und als Werbeträger geschrieben werden. So lange wie Madonna und die Pet | |
Shop Boys wird es Lady Gaga auf diese Weise aber nicht aushalten. | |
27 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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