# taz.de -- Corona in Australien: Australien wird Gefängnisinsel | |
> Australien macht wegen Corona seine Grenzen dicht und schickt Rückkehrer | |
> in Quarantäne. Premier Scott Morrison habe zu spät gehandelt, sagen | |
> Kritiker. | |
Bild: Australien unter Corona: Die sonst bevölkerten Treppen des Sydney Opera … | |
CANBERRA taz | Seit Mittwoch ist Australien wieder das, was es vor über 200 | |
Jahren gewesen war: eine Insel von Gefangenen. Seit diesem Tag ist es | |
australischen Staatsbürgern nicht mehr gestattet, den Kontinent zu | |
verlassen. Gleichzeitig waren Australierinnen und Australier rund um den | |
Globus aufgefordert worden, eiligst nach Hause zu fliegen. | |
Am Freitag ordnete Canberra an, dass die täglich eintreffenden rund 7.000 | |
Rückkehrer nach ihrer Ankunft nicht nach Hause dürften, sondern 14 Tage | |
lang auf Kosten des Staates in ein Hotel zur Selbstquarantäne geschickt | |
würden – beaufsichtigt von Polizei und Armee. So solle sichergestellt | |
werden, dass die Ankömmlinge nicht mit dem Coronavirus infiziert sind. | |
Am Freitag meldete [1][Australien über 3.000 Corona-Fälle]. Sieben Menschen | |
sind bisher an der Krankheit gestorben. Der Großteil der Erkrankten habe | |
sich im Ausland infiziert, so Canberra. | |
Die jüngsten Maßnahmen gegen das Virus wurden von Epidemiologen und anderen | |
Experten zwar begrüßt – sie seien aber zwei Wochen zu spät angeordnet | |
worden, um ein exponentielles Ansteigen der Zahl der Infizierten noch zu | |
verhindern. Die Kritiker meinen, die konservative Regierung unter | |
Premierminister [2][Scott Morrison] renne der Entwicklung hinterher, statt | |
präventiv zu handeln. | |
## Die Regierung wehrt sich gegen Einschränkungen | |
Zwar gelten auch in Australien die Regeln der „sozialen Distanz“. Der | |
Regierungschef wehrte sich aber die ganze Woche stoisch gegen ein | |
„Lockdown“ des öffentlichen Lebens nach europäischem Muster, das die | |
Mehrzahl der Experten fordert. Nur mittels drastischer Maßnahmen könne eine | |
Katastrophe wie etwa in Italien verhindert werden, sagen jetzt | |
Wissenschaftler und Ärzte. | |
Die Regierung dagegen insistiert, dass Schulen geöffnet bleiben sollen, | |
„weil die Kinder sonst ein ganzes Jahr Unterricht verlieren würden“, so | |
Morrison. Außerdem wolle er der Wirtschaft nicht mehr Schaden zumuten, als | |
unbedingt nötig sei. Nur dort, wo enger Kontakt zum Kunden unvermeidbar | |
ist, wurde die Schließung von Betrieben angeordnet: Bordelle etwa, | |
Yoga-Clubs und Nagelstudios. Restaurants mit landesweit insgesamt mehreren | |
hunderttausend Angestellten wurde empfohlen, sich mit der Umstellung auf | |
Außer-Haus-Lieferungen vor dem finanziellen Ruin zu bewahren. | |
Die Anordnungen aus Canberra zum Kontakt zwischen Personen sind aber | |
widersprüchlich. So dürften bei Hochzeiten fünf Personen teilnehmen, bei | |
Beerdigungen hingegen zehn. Weshalb – das konnte selbst Morrison nicht | |
erklären. | |
Zum Erstaunen vieler dürfen Frisörläden geöffnet bleiben. Ein Haarschnitt | |
dürfe aber nicht länger als 30 Minuten dauern, so Morrison. Nach einem | |
Aufschrei von KommentatorInnen wurde diese Bestimmung wieder gestrichen. Es | |
gäbe keine Frau, deren Haar in nur einer halben Stunde frisiert werden | |
könne, meinte eine Kritikerin. | |
## Experten warnen vor dem Nichtstun | |
Für Experten sind die Entwicklungen alles andere als amüsant. Sie weisen | |
auf die rasch steigende Zahl der Erkrankten in den vergangenen Tagen hin. | |
„Was wir hier sehen, ist sehr besorgniserregend“, so der Epidemiologe Tim | |
Newsome von der Universität Sydney. „Falls wir nicht beginnen, bald Erfolge | |
dank sozialer Distanzierung und strengerer Maßnahmen zu sehen, wird unser | |
Gesundheitssystem stark überfordert“, so der Professor. | |
Sein Kollege Tony Blakely von der Universität Melbourne fordert die | |
Regierung seit Tagen auf, einen „Lockdown“ anzuordnen. Schon unter den | |
gegenwärtigen Maßnahmen und strikt durchgesetzter „sozialer Distanz“ kön… | |
die Epidemie eskalieren und Ende Mai mit etwa 125.000 Infektionen pro Tag | |
ihren Höhepunkt erreichen, wobei 60 Prozent der Bevölkerung infiziert | |
wären, hat der Experte errechnet. | |
Blakely prognostiziert, dass am Ende der Epidemie 165.000 Menschen – oder | |
0,84 Prozent aller Erkrankten – intensive Pflege benötigen würden. Zum | |
Höhepunkt der Epidemie würden pro Tag fast 1.400 Menschen in die | |
Intensivstation müssen. Australien verfügt über etwas mehr als 2.200 | |
Intensivpflegebetten. | |
Solche Aussichten haben in den letzten Tagen mehrere Bundesstaaten | |
veranlasst, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. In New South Wales | |
rief die Regierung die Bürger auf, Kinder aus der Schule zu nehmen – im | |
Widerspruch zur Anordnung aus Canberra. In Melbourne verschärfte die lokale | |
Regierung die Ausgangsbeschränkungen derart, dass sie an die Maßnahmen in | |
europäischen Ländern erinnern. | |
## Schon eine Million neue Arbeitslose | |
Mehrere Bundesstaaten haben ihre Grenzen geschlossen. Wer seinen Wohnort in | |
Queensland oder dem Northern Territory hat und einreisen darf, muss sich in | |
Heimquarantäne begeben. Dabei kommt es immer wieder zu Verfehlungen der | |
Behörden. Vergangene Woche wurden über 2.000 Passagiere eines | |
Kreuzfahrtschiffes ohne Gesundheitsprüfung an Land gelassen. Mehrere | |
hundert von ihnen sind inzwischen an Corona erkrankt, ein Passagier ist | |
bereits gestorben. | |
Für den bekannten Schriftsteller Richard Flanagan liegt die Hauptursache | |
für das scheinbare Chaos im Kampf gegen Corona bei Scott Morrisons | |
mangelnder Führungsqualität. „Seine Botschaft ist nicht so sehr unklar als | |
vielmehr schwachsinnig“, schreibt der Autor. „Weshalb sonst – als die | |
Schwere der Krise bereits offensichtlich war und die Notwendigkeit einer | |
‚sozialen Distanzierung‘ deutlich wurde – sagte Morrison lächelnd, dass … | |
zum Fußball gehen würde?“. | |
Nichts mehr zu lachen haben inzwischen fast eine Million Australierinnen | |
und Australier, die ihre Arbeit verloren haben. Die ganze Woche standen vor | |
den Arbeitsämtern Hunderte von Entlassenen und Freigestellten Schlange, | |
unter ihnen viele, die noch nie auf Sozialhilfe angewiesen waren. Das | |
Online-System, unter dem man einen Antrag auf Unterstützung stellen kann, | |
brach zusammen. | |
Australien hat als einzige Industrienation in den letzten fast 30 Jahren | |
ein stetes Wirtschaftswachstum verzeichnen können. Doch Analysten gehen | |
davon aus, dass das Land in eine Rezession gleiten wird. Einigen | |
Beobachtern zufolge soll sich die Arbeitslosenrate im Verlauf des Jahres | |
von bisher rund fünf Prozent mindestens verdoppeln, wenn nicht sogar | |
verdreifachen. | |
27 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.worldometers.info/coronavirus/country/australia/ | |
[2] /Kritik-an-Australiens-Premier/!5653544 | |
## AUTOREN | |
Urs Wälterlin | |
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