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# taz.de -- Björks neues Album "Biophilia": Die Quallengalaxie
> Die Musikindustrie muss sich neu erfinden. Wie das aussehen könnte, zeigt
> Björk mit ihrem multimedial erweiterten, irren neuen Konzeptalbum
> "Biophilia".
Bild: Zeigt bei neuer Technik keine Berührungsängste: Björk.
Im Interview mit dem US-Blog Stereogum vergleicht Björk ihr neues Projekt
mit einer Qualle. Deren zahlreiche Tentakeln seien eine Metapher für die
ausufernde Ideenflut, in der die isländische Popikone während der Arbeit an
ihrem Album "Biophilia" regelrecht zu ertrinken drohte.
Denn es sollte diesmal nicht nur bei einer handelsüblichen CD bleiben,
schließlich kränkelt die Branche. Und jede Idee zum wuchernden
Gesamtkunstwerk führte zum nächsten, noch größeren Projekt. Daraus
erwuchsen kühne Pläne für eine Installation in einem Wissenschaftsmuseum in
Tokio oder gar ein eigenes Museum. Selbst ein IMAX-3-D-Film in
Zusammenarbeit mit dem US-Natur- und Wissenschaftsmagazin National
Geographic wurde erörtert.
Alles, was musikalische und visuelle Einfälle vermischt, tastbare und
virtuelle Welten vermengt, stand zur Disposition. Aber diese Pläne erwiesen
sich als zu aufwändig und kostspielig. Nichts davon wurde verwirklicht.
Dennoch, von der fixen Idee, ein multimediales Werk um ihr neues Album
"Biophilia" herum zu kreieren, hat Björk nicht abgelassen.
So entstanden also begleitend zum Album auch Apps für das iPhone, eine
ausgeklügelte Livetour, ein Dokumentarfilm und eine neue Website. Das
interaktive Brimborium klingt auf Anhieb eher bodenständig, ja fast
konservativ oder sogar enttäuschend: Konzerte gab es bereits vor der
Erfindung der Langspielplatte 1948, auch mit Making-ofs kann man niemanden
mehr überraschen, und mittels App beglücken Lady Gaga oder Justin Bieber
schon seit Längerem ihre Fans.
Aber Björk treibt ihr tentakelartiges Werk ein gutes Stück weiter: Jeder
einzelne "Biophilia"-Projektbaustein wird um eigens kreierte Erfindungen
erweitert, interpretiert, umgebaut, aufgeblasen und verspricht neue
Erfahrungen – in einem Ausmaß und einer Dichte, die es so noch nicht gab.
So ist allein die geplante Tournee über einen Zeitraum von drei Jahren
angelegt, bestehend aus jeweils sechswöchigen Engagements in acht
verschiedenen Metropolen – mit Pausen zwischendurch.
## Eine Nähmaschine als Riesenorgel
Der Auftakt dieser globalen Reise fand bereits im Juni im britischen
Manchester statt, wo das Publikum die Weltpremiere neuartiger Instrumente
bestaunen konnte, die Björk mitkonzipiert und von professionellen
Handwerkern aus Island und Großbritannien hatte anfertigen lassen: eine
gigantische Orgel etwa, die aussieht wie eine antike Nähmaschine mit
silbernen Rädern – ihre Klänge werden nicht durch Pfeifen, sondern durch
Grammofontrichter erzeugt.
Mit dabei auch fünf Meter hohe Pendel, die als Harfe fungieren, oder eine
sogenannte Gameleste, eine Kreuzung aus Gamelan und Celesta. Das ergibt
dann eine mit unzähligen Xylofonstäben ausgestattete Orgel, die letztlich
wie ein Glockenspiel klingt.
All diese fantastischen Instrumente, so Björk weiter im Interview, sind mit
der heutigen Zeit kompatibel: Sie haben alle einen "Plug and
Play"-iPad-Anschluss und stehen zudem in enger Verbindung mit dem
virtuellen App-Universum, in dem Björks neues Album sich auf Knopfdruck
erst komplett entfalten soll.
Im Netz steht bereits die erste, kostenlose Mutter-App "Biophilia" zur
Verfügung: ungewöhnlich satte 250 Megabytes, die iPhone, iPod Touch oder
iPad der neueren Generation voraussetzen. Beim Öffnen der App wird man
sogleich von der sonoren Stimme des preisgekrönten Tierfilmers und
Naturforschers Sir David Attenborough willkommen geheißen.
## Wiedervereinigung von Mensch und Natur
Während sich die elegante 3-D-Darstellung einer imaginären Galaxie auf dem
Bildschirm entfaltet, erklärt der Brite mit Kultstatus das
"Biophilia"-Konzept: Die Gesamtheit der Natur in all ihrer Größe sei für
uns Menschen ein Mysterium. Ähnlich verhalte es sich mit der Musik, die wir
weder berühren noch sehen können. Mit "Biophilia" aber würden wir nun
erleben, wie Natur, Musik und Technologie erstmals aufeinandertreffen. Eine
Revolution: "Biophilia" ist die Wiedervereinigung von Mensch und Natur
durch die Mittel der Technologie.
Bereits 2005 mutierte der Mensch Björk dank aufwendiger Spezialeffekte zu
einem Wal, damals im ökologischen Experimentalfilm "Drawing Restraint 9"
des US-Medienkünstlers Matthew Barney, Björks Ehemann. In der realen Welt
ist die Isländerin schon lange eine engagierte Umweltaktivistin. Anfang des
Jahres sammelte sie während eines Karaoke-Marathons Unterschriften für eine
Volksabstimmung, um den Verkauf isländischer Naturressourcen zu verhindern.
Auf "Biophilia" gebührt der Natur folgerichtig eine zentrale Rolle: Alle
zehn Songs sind jeweils einem Naturelement oder Phänomen gewidmet, von
Urknall über Mond bis hin zum Donner. Diese Naturgewalten finden sich auch
in der animierten 3-D-Galaxie der "Biophilia"-App als Astralkörper wieder.
Bei der Auswahl des Titels "Moon" beispielsweise wird nach allerlei
Hin-und-Her-Gefliege erklärt, das Lied sei von Gemeinsamkeiten zwischen
musikalischen Abläufen und den vom Mond verursachten Gezeiten inspiriert.
Zu den abrufbaren "Moon"-Features zählen der Song selbst, eine Partitur mit
Karaoke-Option, interaktive Animationsfilme, Videospiele und ein
wissenschaftlicher Essay.
## Der entscheidende Klick kostet Geld
Musik hören, lernen und selbst kreativ werden. Nur noch ein Klick, und die
Reise könne losgehen. Dieser Klick ist dann allerdings kostenpflichtig.
An sich logisch, so Björk in Stereogum, denn die Lage sei ernst: Die
Musikindustrie bleibt auf ihren Tonträgern sitzen, seit sich alle Welt ihre
Lieblingssongs illegal aus dem Internet lädt. Björk aber hält nicht viel
von düsteren Prognosen. Anstatt auf eine Lösung seitens der Plattenfirmen
zu warten, hat sie sich entschieden, technologische Neuerungen mit offenen
Armen zu umarmen, und geht jetzt selbst der Frage nach: Wie funktioniert
das Ganze, und wie nutze ich es für meine künstlerischen und finanziellen
Zwecke?
An den Zutaten hapert es jedenfalls nicht: Bereits für das Vorgängeralbum
"Volta" kooperierten etliche Größen der internationalen Pop- und
Kunstszene, und auch bei "Biophilia" sind die Ingredienzen erlesen.
Musikprominenz wie der Brite Matthew Herbert oder der Syrer Omar Souleyman
steuern Remixe bei, und ehrenamtliche Rückendeckung kommt von der Crème de
la Crème der App-Entwickler-Szene.
Selbst wenn, so Björk im Interview mit dem Guardian, die Apps gehackt
werden sollten, so sei das okay. Hauptsache, die Hacker würden dabei
kreativ vorgehen. Mit ähnlich selbstironischer Distanz bewertet Björk ihre
eigene musikalische Fortentwicklung. Bei jedem neuen Album konfrontiere sie
sich mit ihren Tabus, A-capella-Musik hielt sie etwa für "das Grausigste
auf Erden", um dann 2004 das Album "Medúlla" ausschließlich A capella zu
produzieren.
## Hell klirrende Melodien
Über den Sound von "Biophilia" sagt sie: "Jetzt mache ich plötzlich
generative Musik, alles klingt nach Pastelltönen und fast schon
oberflächlich. So einen App-Song herauszubringen ist an sich ein Desaster,
aber ich nehme die Herausforderung an!"
Tröstlich, dass "Biophilia" jetzt auch als gewöhnliches Album erhältlich
ist. Es klingt, von dem ganzen Gesamtkunstballast befreit, weder
pastellfarben noch überkompliziert. Akustik und Elektronik werden virtuos
vermählt: Hell klirrende Melodien und kreisende Gameleste-Akkorde
konkurrieren im Song "Crystalline" mit wilden Breakbeats. In "Moon" freut
man sich über jedes Knarzen der Harfensaiten, während "Thunderbolt" eine
hallende Orgel gegen wummernde Elektrobässe anfliegen lässt.
Der Song "Virus" schließlich bringt das Björksche Quallenthema
Mensch-Natur-Technik ironisch auf den Punkt, als grausam-zärtliche
Liebeserklärung eines anhänglichen Keims an seinen Gastkörper.
6 Oct 2011
## AUTOREN
Elise Graton
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