# taz.de -- Bill Kaulitz über seine Autobiografie: „Ich wurde mit Steinen be… | |
> Bill Kaulitz wurde mit der Band Tokio Hotel berühmt. In seiner | |
> Autobiografie blickt der heute 31-Jährige zurück auf das Leben als | |
> Teenie-Star. | |
Bild: Bill Kaulitz im Januar 2021. 16 Jahre sind seit dem Band-Hit „Durch den… | |
taz: Bill Kaulitz, Sie waren schon als Teenager ein Superstar, haben mit | |
Ihrer Musik alles erreicht, was man erreichen kann. Fällt es Ihnen schwer, | |
noch einen Sinn in Ihrem Leben zu finden? | |
Bill Kaulitz: Ach, ich glaube, mein Leben ist noch nicht auserzählt. Ich | |
finde immer etwas Neues: den nächsten guten Song, den ich schreiben will, | |
die nächste Tour, die noch geiler sein soll, das tolle Kostüm, das ich | |
tragen will. Ich gucke selten zurück – zum ersten Mal eigentlich, als ich | |
das Buch geschrieben habe. Aber ich bin niemand, der sich auf Erfolgen | |
ausruht. | |
Sie schreiben in Ihrem Buch, in Ihrer Kindheit und Jugend hätten Sie | |
täglich Angst gehabt und massive körperliche Gewalt erfahren, durch | |
Mitschüler:innen, Lehrer:innen, Nachbar:innen. Der Alltag habe einem | |
Kampf ums Überleben geglichen. Ist das übertrieben? | |
Es war tatsächlich so krass, wie ich es schildere. Für uns war Rausgehen | |
wie in den Krieg zu ziehen. Mein Bruder und ich sind natürlich auch extrem | |
aufgefallen. Wir waren keine ruhigen, zurückhaltenden Kinder. Dadurch haben | |
wir es uns nicht gerade leicht gemacht. | |
Wie sehr hat diese Angst Sie geprägt? | |
Es gibt ja viele Leute, die sich immer mit ihrer Kindheit entschuldigen. | |
Aber umso älter ich werde, umso mehr merke ich, was mir von damals immer | |
noch in Erinnerung geblieben ist, was ich zum Teil jetzt erst verarbeiten | |
kann. Wenn ich heute gucke, wie jung ich damals war, was für ein kleines | |
Kind ich auf manchen Fotos bin, dann berührt mich das heute viel mehr, zu | |
wissen, dass ich mit Steinen beworfen wurde, als damals im Moment selbst. | |
Wenn Sie die Wahl gehabt hätten: Wären Sie lieber in einem bürgerlichen | |
Milieu aufgewachsen? | |
Ich gucke mir manchmal schon so spießige Familien an: Mama und Papa sind | |
verheiratet und sind seit 45 Jahren glücklich und die wohnen in einem | |
schönen Haus mit Garten. Klingt erst mal idyllisch! Aber wahrscheinlich | |
wäre ich eingegangen vor Langeweile. Und heute bin ich wahnsinnig stolz | |
darauf, wo ich herkomme. Das war schließlich der Motor in meinem Leben. Ich | |
hätte sonst wahrscheinlich nie eine solche Karriere gehabt. | |
Aber auch so sei Ihnen als Jugendlicher in Magdeburg und im kleinen Dorf | |
Loitsche in Sachsen-Anhalt geradezu sterbenslangweilig gewesen, schreiben | |
Sie. Dabei haben Sie mit 13 Speed genommen und Ihr Bruder hatte Sex im | |
Altpapiercontainer? | |
Tja, wir haben uns halt gut beschäftigt! Und, na ja, es gab halt auch nicht | |
viel zu tun. Wir konnten nichts Besseres mit unserer Zeit anfangen, als | |
rumzufummeln und Drogen auszuprobieren. | |
Sie schreiben auch: „Drogen machen hässlich.“ Dafür haben Sie aber schon | |
als Kind eine ganze Menge konsumiert. | |
Da muss man dann rechtzeitig den Absprung finden. Aber diese Angst ist | |
wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich nie abhängig geworden bin. | |
Nachher fallen mir noch Haare und Zähne aus! | |
Sie hätten sich schon immer anders gefühlt, schreiben Sie, Mädchenkleider | |
getragen, mit Jungen geknutscht. Immer wieder deuten Sie auch später im | |
Buch Ihre Queerness an. Und mit Ihren Bühnenoutfits sprengten Sie die | |
Geschlechtergrenzen ohnehin. Klar outen wollten Sie sich aber nie. Warum so | |
verdruckst? | |
Ich finde diese ganze Diskussion so unnötig. Bei uns zu Hause gab es keine | |
Verbote oder Tabus. Und ich musste mich nie in irgendeiner Form | |
rechtfertigen. Darum habe ich nie verstanden, warum Leute mir das später | |
dann abverlangt haben. Für mich ist das Leben so viel komplexer, als man es | |
durch so ein Outing ausdrücken kann. | |
Folgen Sie aber damit nicht immer noch den Regeln des Musikgeschäfts: sich | |
bloß nicht zu eindeutig äußern? Ist es nicht Zeit, damit zu brechen? | |
Im Gegenteil! Es langweilt mich schon fast, wie viele Musiker sich | |
heutzutage outen. Gefühlt alle sagen: Och, ich könnt’s mir auch mal mit | |
’nem gleichgeschlechtlichen Partner vorstellen. Das ist inzwischen so | |
penetrant, dass ich oft schon daran zweifele, dass die das überhaupt ernst | |
meinen. Viel spannender ist doch der Sport: Fußballer, Rennfahrer, Boxer. | |
Da würde mich das Privatleben viel mehr interessieren. Man kann ja nicht im | |
Ernst glauben, dass es keine queeren Profisportler gibt. | |
Welche Verantwortung empfinden Sie für LGBT-Fans, die sich Tokio Hotel zum | |
Vorbild nehmen? Sie spielen ja sogar im homophoben Russland Konzerte und | |
ziehen Leute an. | |
Für mich sind solche Fans das schönste Kompliment überhaupt. In Russland | |
etwa gibt es Jungs oder Männer, die mit High Heels und glitzerndem Outfit | |
kommen und dann erzählen: Die hole ich nur einmal im Jahr raus, nämlich für | |
euer Konzert. Natürlich würde ich mir wünschen, die könnten das viel öfter | |
tun. Wenn ich zurückgucke in meine Jugend, weiß ich, wie wichtig David | |
Bowie, Prince und Nena für mich waren, welches Selbstbewusstsein die mir | |
gegeben haben, wie die mich haben träumen lassen von einer Welt, die über | |
die Kali-Berge in Loitsche hinausgeht. | |
Ihre Band sei „zu Botschaftern der Missverstandenen und | |
Selbstmordgefährdeten“ geworden, schreiben Sie im Buch. Wie sind Sie damit | |
umgegangen? | |
Früher konnte ich diese Eindrücke gar nicht an mich ranlassen. Die habe ich | |
dann professionell weggelächelt. Heute, als Erwachsener, halte ich mehr | |
aus. Wenn Fans vor mir stehen, weinen und mir tragische Geschichten | |
erzählen, dann kann ich mich davon ganz anders berühren lassen. | |
Wo ist die Grenze zwischen solch intensiver Bewunderung und Stalking, wie | |
Sie und Ihre Bandkollegen es ja auch erlebt haben? | |
Die anfängliche Bewunderung für uns ist bei einigen Fans umgeschlagen in so | |
eine Abartigkeit, ein Nicht-teilen-Können. Wir wurden quasi rund um die Uhr | |
überwacht, die haben uns nicht erlaubt, ein Leben ohne sie zu führen. Deren | |
Motto war: Ihr habt euch für dieses Leben entschieden und wir haben ein | |
Recht darauf, an jedem Schritt teilzuhaben. Das ist ein Phänomen, das schon | |
im Kleinen anfängt. Am Flughafen zum Beispiel. Wenn wir mal keine | |
Autogramme gegeben haben, schrien Leute: „Ich hab’ aber Eure CD gekauft!“ | |
Die denken, sie besitzen dann auch uns. | |
Warum verraten Sie so viele Interna aus dem Musikgeschäft, zum Beispiel, | |
wie Sie bei Ihren Verträgen über den Tisch gezogen wurden? Ist das nicht | |
career suicide? | |
So viel zu erzählen ist natürlich ein absolutes No-Go. Aber wir leben | |
inzwischen in einer so offenen Welt, da muss das einfach mal raus. Einige | |
der Genannten arbeiten ja noch in dem Business und die müssen damit | |
konfrontiert werden. Wenn ich schon zurückgucke, will ich auch ehrlich | |
sein. | |
Ist Ihnen inzwischen egal, was die „Bild“-Zeitung über Sie schreibt? | |
Total. Ich rede schon viele Jahre nicht mehr mit denen. | |
2020 veröffentlichten Sie ein aktuelles Musikvideo zu Ihrem Hit „Durch den | |
Monsun“ unter dem Titel „Durch den Monsun 2020“. Nerven die alten Lieder | |
nicht irgendwann? | |
Überhaupt nicht! Der Song wird für mich das Ticket sein, das mich aus | |
dieser Welt heraus in meinen Traum gebracht hat. | |
Es gab [1][viel Kritik am Format „Queen of Drags“] Ihrer Schwägerin Heidi | |
Klum, in dem auch Sie in der Jury sitzen: Sie habe eigentlich keine Ahnung | |
und beute Drag nur aus, weil Drag durch „Ru Paul’ s Drag Race“ gerade | |
beliebt ist. Sie haben damals Unverständnis darüber geäußert und mehr | |
[2][Dankbarkeit aus der Drag-Community] eingefordert. Sehen Sie das immer | |
noch so? | |
Absolut! Durch diese Aussagen hat sich die Szene selbst ein Bein gestellt. | |
Das kann doch nicht wahr sein, dass man was dagegen hat, wenn ein | |
heterosexueller Superstar Drags eine Bühne bietet und sie wegen ihrer | |
Sexualität ausschließt. Genau die Menschen, die selbst Toleranz von anderen | |
erwarten. Ich glaube, die meisten der wenigen Kritiker schämen sich dafür | |
inzwischen, denn es war eine super Show, wir haben mega Feedback darauf | |
bekommen. | |
Aber Heidi Klum ist nun einmal reich, berühmt, mächtig – und heterosexuell. | |
Wie soll ihr diese Kritik da ernsthaft schaden können? | |
Das ist doch trotzdem diskriminierend. Dürfen etwa nur bestimmte Leute | |
Dragqueens bewerten? Da isoliert man sich doch und grenzt sich selbst aus. | |
Das ist doch genau das Schubladendenken, das wir eigentlich ablehnen. | |
31 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Adrian Schulz | |
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