| # taz.de -- Künstler: Der Karl Valentin von Hannover | |
| > Timm Ulrichs ist in der Landeshauptstadt hängen geblieben. Sich selbst | |
| > sieht er als sein erstes Kunstwerk - er hat sich sogar patentieren | |
| > lassen. Jetzt widmen ihm Kunstverein und Sprengel-Museum eine | |
| > Doppelausstellung. | |
| Bild: Sollte nur mit Haftpflichtversicherung betreten werden: Timm Ulrichs Arbe… | |
| "Dieses Jahr war schon zu viel los", sagt Timm Ulrichs noch auf der Straße | |
| als Entschuldigung, als auch der zweite Anlauf zum Atelierbesuch nur | |
| klappt, weil der Kunstverein Hannover telefonisch interveniert hat. Zu | |
| seinem 70. Geburtstag der Eintrag ins Goldenen Buch der Stadt - immerhin | |
| noch eine Seite vor der blutjungen Lena -, einige Ausstellungen, und jetzt | |
| die Doppelschau in Sprengel-Museum und Kunstverein, die am 27. November | |
| eröffnet und noch viel Aufbauarbeit erfordert. "Aber ich weiß gar nicht, | |
| wer die eigentlich haben wollte!" | |
| Also erst einmal gemeinsam hinein in ein biederes Wohnhaus, im Erdgeschoss | |
| ist ein Insolvenzbüro, nur die Lage im Rotlichtviertel am Bahnhof zeugt von | |
| subtil gesetzter Renitenz. Zwei Wohnungen öffnen sich. Die eine wird, | |
| selbst wenn man's angesichts des Chaos kaum glauben mag, von Timm Ulrichs | |
| bewohnt. Und die gegenüber liegende, vorher mal zu Wohnzwecken genutzte: | |
| kein Atelier, sondern ein geniales Setting, mit der hageren Gestalt des | |
| Meisters mittendrin. Der Stern war mal hier, wollte was über Messies | |
| machen, aber das ist Ulrichs nicht. Alles hat seinen Platz, das Betreten | |
| ist, wenngleich nicht verboten, nur unter äußerster Vorsicht gestattet. Der | |
| Fotograf wagt sich hinein - unter Verweis auf eine Haftpflichtversicherung. | |
| Ulrichs arbeitet jedoch vorrangig "ambulant", wie er sagt, im Zug dank der | |
| Bahncard 100, im Stammcafé, seinem sogenannten Büro, dem er über viele | |
| Betreiberwechsel die Treue hielt. Und es gibt noch zwei weitere Wohnungen. | |
| Eine ist in Münster, aus der Zeit seiner Professur an der Kunstakademie. | |
| Hier wird geschrieben, an Katalogen gearbeitet. Und in Berlin ist die | |
| vierte. Aber alle, sagt er, seien ähnlich angefüllt mit Korrespondenzen, | |
| historischen Katalogen, Gerätschaften. | |
| Zum Gespräch geht es in besagtes Café, mittlerweile die schnöde Filiale | |
| einer beliebigen Kette. In Hannover hängen zu bleiben, sei der größte | |
| Fehler seines Lebens gewesen, sprudelt es aus Ulrichs heraus. Das | |
| Architektur-Studium habe ihn hierhin verschlagen, den Berufswunsch Künstler | |
| habe er sich nicht getraut bei seinen Eltern vorzubringen, er sollte doch | |
| schließlich was werden. Und als nach dem Vordiplom das Studium irgendwie im | |
| Sande verlief, wurde das als Kunstpause verkauft, die halt bis heute | |
| anhält. | |
| Hannover fehle die beflügelnde Atmosphäre, sagt Ulrichs, schon lange halte | |
| sich keine nennenswerte Galerie mehr am Ort. Auch deshalb sei er im | |
| Kunstmarkt nicht präsent. Ein anderer, der wesentliche Grund aber, weshalb | |
| Timm Ulrichs in kaum einer Überblicksschau zur Kunst aus Deutschland | |
| auftaucht, weshalb kein ganz großes Haus jemals eine Personale zu ihm | |
| wagte: er hat einfach zu viele Ideen. | |
| Das, was einen Künstler eigentlich ausmachen sollte, das Experimentieren, | |
| die Versuche, die eigenen Grenzen und die der Disziplinen zu erweitern, | |
| wurde für seine Markttauglichkeit zum Verhängnis. Heute geht es in der | |
| Kunst um Konsequenz, den Wiedererkennungswert, das Typische eines Künstlers | |
| als Marke. Diese Erwartungen will Ulrichs aber nicht erfüllen. Seine | |
| Frustrationstoleranz sei halt sehr begrenzt, Wiederholen langweile ihn | |
| schnell, nur das Neue treibe ihn an: "Ich würde wahnsinnig werden, wie ein | |
| Uecker jeden Tag Nagelbilder zu machen, oder Kopffüßler wie Antes. Ist | |
| denen denn gar nichts mehr eingefallen?" | |
| Ulrichs beharrt auf seiner persönlichen Haltung, der in sich schlüssigen | |
| Konsistenz eines heterogen scheinenden Werks. Und die bezieht sein Leben | |
| und ihn als Subjekt untrennbar mit ein - Totalkunst als Konzept eines | |
| Neo-Dada, er selbst sein erstes lebendes Kunstwerk, 1968 per Eintrag ins | |
| Musterregister rechtlich geschützt. | |
| Wer sich derartig exponiert, wird verletzlich. Vier Räume hat das | |
| Sprengel-Museum ihm für die aktuelle Werkschau zu Verfügung gestellt. Aber | |
| einen, in dem sein "Konzert der Türen" aus der Serie möbelartiger Objekte | |
| gezeigt werden soll, muss er schon einen Monat vor Ende der Ausstellung | |
| wieder räumen - ein "internationaler Künstler", wie Ulrichs stichelt, | |
| beansprucht ihn bereits ab Januar für die eigene Präsentation. Eine wohl | |
| auch nur unbeabsichtigte weitere Kränkung, ebenso wie der ewige Vergleich | |
| mit Kurt Schwitters, dem Hannoveraner Überkünstler. | |
| Gern wird Ulrichs, da er gleichfalls zwischen Grafik, Objekt- und | |
| Sprachkunst zu wandeln versteht, als Schwitters Erbe bezeichnet, der | |
| gleichnamige Preis der Stadt Hannover wurde ihm bislang aber nie zuerkannt. | |
| Die Ulrichs'sche Auseinandersetzung mit Kurt Schwitters sieht so aus: 1972 | |
| schrieb er einen Einschreibebrief an dessen alte Adresse, der mit dem | |
| Vermerk "verstorben" zurückkam und seitdem im Schwitters-Archiv lagert. | |
| Läge Hannover weiter südlich, böte vielleicht Karl Valentin ein näher | |
| liegendes Referenzsystem. Nicht nur die physische Präsenz zweier großer | |
| dürrer Gestalten, auch die intellektuelle Zuspitzung, der Witz, das | |
| liebevoll Absurde in vieler ihrer Kunstformen, vor allem aber das notorisch | |
| querulatorische Hadern mit der Welt, wie sie eben ist, scheint beide im | |
| Geiste zu verbinden. Wie Valentin setzt Ulrichs alles auf eine Karte und | |
| inszeniert sich als lebendes Gesamtkunstwerk - mit der Kehrseite einer | |
| zuverlässigen Selbstzerstörung. "Nächstes Jahr wird aufgeräumt", sagt Timm | |
| Ulrichs am Ende des Gesprächs. Banger Gedanke beim Nachhausefahren: | |
| Hoffentlich räumt er nicht zu viel weg. | |
| 24 Nov 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Maria Brosowsky | |
| ## TAGS | |
| Bildende Kunst | |
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