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# taz.de -- Alex Ross über Musik im 20. Jahrhundert: "Hitler darf Musik nicht …
> Gespräch mit Alex Ross, Musikkritiker des "New Yorker", über das Soziale
> und das Ästhetische in der Kunst.
Bild: Alex Ross: "Im Wien des frühen 20. Jahrhunderts sind der alte Mahler, de…
taz: Bertolt Brecht hat einmal gesagt, Musik machen sei besser als hören,
was meinen Sie?
Alex Ross: In einer idealen Welt würde jeder für sich selbst Musik machen.
Dann bräuchte es auch keine Aufnahmen und Konzerte. Brechts Aussage passt
gut zur Professionalisierung des Musiklebens im 20. Jahrhundert, wo es
inzwischen für alles eine Nische gibt. Aber es hat sich auch eine Lücke
zwischen Zuhörern und Musikern aufgetan. Letztere vollführen auf der Bühne
ein unnachahmliches magisches Ritual und Erstere verfolgen es passiv
zuhörend. Für das Kulturleben wäre es aber gesünder, wenn mehr Menschen
Musik spielen würden.
Ihr Buch verknüpft die Entwicklung klassischer Musik im 20. Jahrhundert
sehr eng mit den gesellschaftlichen Prozessen, warum?
Auch in den USA beurteilte man klassische Musik lange Zeit rein nach
formalen Aspekten. Politische und soziale Implikationen wurden oft
vermieden. Ich finde, es lässt sich viel über Musik lernen, wenn man ihre
soziologischen Dimensionen berücksichtigt. Ich habe selbst eine klassische
Musikausbildung durchlaufen, mich aber immer auch für Geschichte, Kunst und
Literatur interessiert. Beim Schreiben von "The Rest is Noise" wurde mir
klar, dass ich die Musik des 20. Jahrhunderts im Lichte ihrer politischen
Umstände diskutieren muss. Trotzdem gilt es, vorsichtig zu sein und keine
eindimensionalen Schlüsse aus dem Verhältnis von Musik zu ihren jeweiligen
sozialen und kulturellen Kontexten zu ziehen. Es bleibt immer ein Rest
Unsicherheit, warum sich bestimmte Komponisten in dieser oder jener
Musikfarbe oder -form zu einer bestimmten Zeit ausgedrückt haben. Man hört
sich Musik auf verschiedene Weisen an: intellektuell, kontextuell oder eben
intuitiv, sinnlich.
Warum beginnt Ihr Buch mit Gustav Mahler?
In seiner Musik kommen multiple modernistische Identitäten zum Tragen.
Zwischen 1900 und 1910 tauchen dissonante Klänge bei ihm auf. Aber es gibt
bei Mahler auch eine Art ironische Abwandlung des Bestehenden. So benutzt
er Ländler-Zitate und führt diese kitschigen Motive in katastrophische
Szenen. Gleichzeitig schaut Mahler zurück und sehnt sich nach der Romantik.
Nostalgie und Trauer sind seiner Musik inhärent. Auch das ist Modernismus:
eine Stimme, die sich gegen die Moderne erhebt. Mit Mahler wollte ich
unterstreichen, dass die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts aus
Parallelwelten besteht, die sich simultan auffächern.
Wien gilt als die erste Musikmetropole der Moderne. Dort wurden auch zuerst
die Skandale von Musikern ruchbar.
Es gibt Referenzen in den Kompositionen von Alban Berg, die auf sein
turbulentes Liebesleben anspielen. Und Arnold Schönbergs Ehekrisen schlugen
sich stets in seinen Werken nieder. Das wissen wir, weil es in ihren
Tagebüchern steht. Damals erfuhr die Öffentlichkeit wenig von dem, was
hinter den Kulissen passierte. Skandale spielten sich im Musikalischen ab.
Die Zuhörer waren von der Atonalität schockiert. Das setzt sich bis heute
fort. Wenn Schönberg in New York aufgeführt wird, spürt man bei den
Zuhörern immer ein gewisses Unbehagen. Als Komponist wird Schönberg nicht
im gleichen Maße akzeptiert wie etwa Picasso, dessen Motive auf
Kaffeetassen prangen. Das Getöse und der Furor in Schönbergs Musik stoßen
heute noch auf breite Ablehnung.
Ist es Zufall, dass Schönberg und Hitler mutmaßlich die gleiche Literatur
gelesen haben?
Nein, im Wien des frühen 20. Jahrhunderts sind der alte Mahler, der junge
Schönberg und der erfolglose Hitler die gleichen Straßen entlanggewandelt
und haben die gleiche Literatur gelesen. Etwa Otto Weiningers
Kolportage-Bestseller. Weininger war ein Beispiel für jüdischen Selbsthass,
der damals auch antisemitisch ausgelegt wurde, eine psychologische
Horrorshow mit pseudophilosophischen Untertönen. Für mich ist daran nur
ersichtlich, dass eben auch Schönbergs Musik aus dem Chaos erwächst und
gewalttätige Impulse hat. Genau das gibt seiner Musik auch Kraft. Mein Buch
dreht sich auch um Hitlers Musikgeschmack. Wie die Menschen sich heute mit
Wagner beschäftigen, hat auch mit Hitlers Bekenntnis zu dessen Musik zu
tun. Musik darf nicht von Hitler oder Stalin überschattet werden. Sie
gehört in die Welt, aber sie hat auch eine gegenweltliche Komponente. Wir
sind jedenfalls nicht dazu verdammt, Musik so zu hören wie Hitler oder
Stalin. Wir haben die Freiheit, ihr Hörempfinden abzulehnen und uns ihre
Lieblingskomponisten anders anzuhören.
Ausführlich widmen Sie sich den Komponisten im Totalitarismus.
An Dmitri Schostakowitsch und Richard Strauss lässt sich erkunden, wie
Künstler in Diktaturen gewirkt haben. Sie trafen aus freien Stücken
Entscheidungen. Trotzdem kann selbst die Musik dieser dunkelsten Phase der
Geschichte ihren Bedeutungen entwischen. Schostakowitschs Musik ist auf
viele Arten enigmatisch. Auch Strauss hatte eine Fassade, er gibt sich als
distanzierter Mann von Welt, der sich mit den Nazis arrangiert hat. An
Strauss rütteln aber noch ganz andere Kräfte. Aus seiner Musik spricht
etwas Turbulentes, was auf seine Kindheit zurückzuführen ist. Strauss
"Metamorphosen" oder die Achte Sinfonie von Schostakowitsch sind für mich
Beispiele eines künstlerischen Willens, Musik auch unter schrecklichen
Vorzeichen durchzuziehen.
Der Faschismus arbeitete stark mit Emotionalisierungen. Ist die
distanzierte und analytische Grundstimmung, die aus der Minimal Music
spricht, als eine Antwort auf Massenmord und Genozid zu sehen?
Der große Innovator der Minimal Music, Steve Reich, hat einmal gesagt, er
habe in seiner Jugend nur Bach und Strawinsky gehört. Ausgelassen habe er
dagegen alles Epische der deutschen Romantik, Beethoven, Brahms und Wagner.
Die Quellen, auf die sich Reich bezog, hatten indirekt damit zu tun, dass
er der Falle "deutscher Kultur" entkommen wollte, um eine ganz eigene
musikalische Sprache zu finden. Reich vermied in seinen Kompositionen
bewusst eine mit der Romantik assoziierte Üppigkeit. Auch bei seinen ersten
Aufführungen in den USA kam es zu Skandalen, die Zuhörer hielten Minimal
Music nicht aus. Dabei kehrt Reich in gewissem Sinn zur Tonalität zurück.
Sie beschreiben Velvet Underground als Rock-n-Roll-Minimalisten. Nun waren
die Velvets auch die erste ernsthafte Erwachsenenband der Popgeschichte.
Gibt es in der E-Musik zu viel Ernst und zu wenig kindliches Gemüt?
Klassische Musik kann sehr kindlich sein. Der französische Komponist
Francis Poulenc war darin sehr erfolgreich. Auch John Cage hat etwas in
seiner Musik angelegt, ich würde es nicht kindisch nennen, aber er reißt
die ernsthafte Fassade des klassischen Establishments ein, greift sie an
und tritt ihr auf die Füße. Ebenso würde ich Maurizio Kagel nennen und vor
allem Ligeti. Die Musik des 20. Jahrhundert verarbeitete die Apokalypse,
aber sie kann auch sehr kindisch und verspielt klingen.
Sie ironisieren den Klassikbetrieb gern, etwas, was in Deutschland eher
selten ist.
Klassische Musik ist in Europa viel stärker Mainstream als in den USA. Es
existiert ein Image von Klassik als Soundtrack der Gutbetuchten und
Bildungsbürger. Viele Amerikaner entfliehen der Popkultur, indem sie sich
einer starren Definition von klassischer Musik bedienen, um so möglichst
weit von ihren Populärwurzeln entfernt zu sein. Aber es gibt auch Menschen
wie mich, die mit Klassik aufgewachsen sind und von diesem altbackenen
Image loskommen wollen. Für mich ist es unvermeidlich, die klassische
Musikkultur auf die Schippe zu nehmen.
Sie benutzen gern Metaphern. Etwa, "dieses Dampfbad von einer Sinfonie".
Kann man so über Musik schreiben?
Man kommt gar nicht um Metaphern herum, wenn man Musik beschreibt. Auch
noch so objektive analytische Schreibweisen, die wir für Musik haben,
bestehen aus Metaphern: Exposition, Brücke, Coda … Meine Lieblingsautoren
Joyce, Beckett und Wallace Stevens zeichnet ein starkes Rhythmusgefühl aus.
Wenn ich über Musik schreibe, lese ich mir Sätze laut vor und finde heraus,
ob der Satzrhythmus im Fluss ist. Ich versuche auch Wendungen zu benutzen,
die Musik in sich haben. Das bereitet mir viel Vergnügen. Meinen Lesern
hoffentlich auch.
Alex Ross: "The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören". Aus dem
Englischen von Ingo Herzke. Piper Verlag, München, 2009, 703 Seiten, 29,95
Euro
1 Nov 2009
## AUTOREN
Julian Weber
Julian Weber
## TAGS
Frauen-WM 2019
Noise
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