| # taz.de -- Debatte Laizismus in der Türkei: Die Kraft des Faktischen | |
| > Das neue Bildungsgesetz in der Türkei zeigt: Die Islamisierung des Landes | |
| > schreitet voran. Neues Personal kommt, die alten Strukturen bleiben. | |
| Als die AKP vor nunmehr zehn Jahren nach einem sensationellen Wahlerfolg in | |
| der Türkei an die Macht kam, war klar, dass damit in Anatolien und am | |
| Bosporus eine Ära zu Ende ging. Erstmals nach Gründung der Republik 1923 | |
| hatte wieder eine Partei allein die Macht in Händen, die aus der Tradition | |
| des politischen Islam stammt. Stand, wie viele Kritiker befürchten, die | |
| Trennung von Staat und Religion vor dem Ende, sollte aus der demokratischen | |
| Republik jetzt eine islamische Republik werden? | |
| Die Spitzenleute der AKP, allen voran Ministerpräsident Tayyip Erdogan und | |
| Präsident Abdullah Gül, haben das immer verneint. Weder offiziell noch im | |
| Geheimen sei die Abschaffung des Laizismus geplant. Stattdessen gehe es um | |
| echte Demokratisierung und um die Modernisierung des Landes. | |
| Ein vor wenigen Tagen verabschiedetes neues Bildungsgesetz bietet nun einen | |
| guten Anlass, Bilanz zu ziehen. Bildung ist in der Türkei dem französischen | |
| Vorbild folgend eine Angelegenheit des Zentralstaates. Das hat den Vorteil, | |
| dass es nicht zu einem Schulchaos wie in Deutschland kommt, wo jedes | |
| Bundesland seine eigenen Regeln aufgestellt, es hat aber auch einen großen | |
| Nachteil: Türkische Schulen, von der Grundschule bis zu den Gymnasien, ja | |
| selbst bis in die Universitäten hinein, haben nicht nur den Auftrag, Wissen | |
| zu vermitteln, sondern sie setzen einen einheitlichen staatlichen | |
| Bildungsauftrag um. | |
| Bis in die 90er Jahre bestand dieser Bildungsauftrag in einer | |
| kemalistischen Erziehung, der allerdings damals schon zunehmend mit einem | |
| religiösen Erziehungsideal kollidierte. Dieser wurde und wird von den | |
| sogenannten Imam-Hatip-Schulen vertreten, die eigentlich als Berufsschule | |
| der Ausbildung von Imamen dienen sollen, aber immer mehr zu einer | |
| Alternative für religiöse Eltern wurden, die ihre Kinder nicht den | |
| staatlichen höheren Schulen anvertrauen wollten. | |
| ## Regelschule statt Imam-Hatip-Schule | |
| Eine der letzten großen gesellschaftlichen Reformen, die das türkische | |
| Militär noch durchsetzte, war die Verlängerung der Schulpflicht von vier | |
| auf acht Jahre 1996. Ein zweifellos längst überfälliger Schritt, der | |
| allerdings vor allem das Ziel hatte, religiöse Eltern daran zu hindern, | |
| ihre Kinder nach den ersten vier obligatorischen Jahren dann auf eine | |
| Imam-Hatip-Schule oder in einen Korankurs zu schicken. Mit der Regelschule | |
| für acht Jahre wurde die Imam-Hatip-Schule auf die Zeit jenseits der | |
| Schulpflicht zurückgedrängt und ihren Absolventen auch der Zugang zur | |
| Universität erschwert. | |
| Der islamisch-grundierten AKP-Regierung war es schon lange ein Anliegen, | |
| die religiös orientierten Schulen aufzuwerten, doch sowohl Erdogan als auch | |
| Gül war klar, welch heißes Eisen sie damit schmiedeten. Sie haben lange | |
| gewartet, doch nach der letzten Wahl im Sommer 2011, die die AKP nun zum | |
| dritten Mal in Folge gewonnen hat, war nun die Zeit gekommen, diesen Wunsch | |
| umzusetzen. Wie die Militärs in den 90er Jahren kleidet jetzt auch die AKP | |
| eine ideologisch motivierte Reform in einen pädagogisch mustergültigen | |
| Mantel. | |
| Die Schulpflicht wird von acht auf zwölf Jahre heraufgesetzt. Während in | |
| den meisten Ländern die Vorteile einer Gesamtschule diskutiert werden, geht | |
| die Türkei den entgegengesetzten Weg. Sie führt die dreigegliederte Schule | |
| wieder ein. Vier Jahre gemeinsamer Unterricht, danach trennen sich die | |
| Wege. Ab der vierten Klasse können Eltern ihre Kinder auf Berufsschulen | |
| schicken, zu denen auch die Imam-Hatip-Schulen zählen. | |
| ## „Religiöse Generation heranziehen“ | |
| Wie erwartet gab es einen Sturm der Entrüstung, doch Ministerpräsident | |
| Erdogan macht gleich zu Beginn der Debatte deutlich, seine Regierung werde | |
| nicht zurückweichen. „Wir werden eine religiöse Generation heranziehen“, | |
| sagte er im Parlament und offenbarte, worum es bei der Bildungsreform | |
| tatsächlich geht. Gegen massive Proteste der Opposition, von hunderten NGOs | |
| und Frauengruppen und selbst vom wichtigen Wirtschaftsverband Tüsiad | |
| verabschiedete die Mehrheit der AKP das Gesetz mit einigen geringfügigen | |
| Korrekturen. Eine davon betraf die ursprünglich vorgesehene Regelung, dass | |
| Mädchen bereits nach der vierten Klasse ihre Ausbildung per Fernunterricht | |
| hätten fortsetzen können, sprich gar nicht mehr zur Schule hätten gehen | |
| müssen. | |
| Das soll nun erst nach der achten Klasse möglich sein. Die wesentlichen | |
| Bestandteile der Reform wurden aber durchgesetzt. Ganz nebenbei wird damit | |
| auch das Kopftuch schon bei zehnjährigen Mädchen Einzug in die Schule | |
| halten: bei allen denen, die ab der fünften Klasse die Imam-Hatip-Schulen | |
| besuchen. | |
| Seit die AKP in den letzten Jahren die Macht des Militärs wirkungsvoll | |
| gebrochen hat, setzt sie konsequent einen Weg fort, der sich schon bald | |
| nach ihrem Machtantritt andeutete: Die autoritären Strukturen der Militärs | |
| werden nur selten abgeschafft, sondern fast immer lediglich mit neuen | |
| Inhalten gefüllt. Bestes Beispiel ist die Aufsicht über die Universitäten. | |
| Das Militär hatte nach dem Putsch 1980 die Autonomie der Universitäten | |
| abgeschafft und einen sogenannten Hohen Universitätsrat eingerichtet, der | |
| im Auftrag des Präsidenten die Lehrinhalte und die Berufungen überwachte. | |
| Die AKP hat diesen Hohen Universitätsrat nicht, wie ursprünglich | |
| versprochen, aufgelöst, sondern stattdessen mit ihren eigenen Leuten | |
| besetzt. | |
| ## Besser ein guter Muslim sein | |
| Mit der Bildungsreform werden nun die Weichen für eine langfristige | |
| Veränderung des Landes gestellt. Tatsächlich hat die AKP ihr ursprüngliches | |
| Versprechen gehalten. Weder wurde die Scharia eingeführt, noch müssen | |
| Frauen sich verhüllen. Trotzdem ist die Türkei heute ein weit | |
| muslimischeres Land als vor zehn Jahren. Das hat mit einer Verschiebung von | |
| Normen zu tun. | |
| Es gilt heute als normal, dass im Ramadan gefastet wird und dass Frauen | |
| nicht arbeiten, sondern zu Hause die Familie betreuen. Das sei nun einmal | |
| der mehrheitliche Wille des Volkes. Und wer als Mann etwas werden will, | |
| sollte besser ein guter Muslim sein. Für eine Islamisierung der Türkei | |
| braucht es keine Akklamation einer Islamischen Republik. Es reicht die | |
| normative Kraft des Faktischen und die Opportunität gegenüber den Siegern. | |
| 16 Apr 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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