| # taz.de -- Zu Besuch beim Urologen: Der Duft der Großstadt | |
| > Auf dem Weg zum Urologen muss der Autor durch einen übel riechenden Gang. | |
| > Der dort sitzende Junkie und er als Pipipatient haben viel gemeinsam. | |
| Bild: Berliner Luft: Am Kottbusser ist für jede Nase etwas dabei | |
| Termine beim Urologen bedrücken mich überproportional, ich weiß gar nicht, | |
| warum. Also mehr noch als andere Arztbesuche. Vielleicht liegt es daran, | |
| dass bei meinem Urologen bereits das ganze Setting niederschmetternd ist. | |
| Seine Praxis liegt in einem verwinkelten Labyrinth innerhalb eines | |
| brutalistischen Betonensembles am Kottbusser Tor. Länger verweilen hier nur | |
| Junkies, selten sehe ich auch mal einen Bewohner mit zugehaltener Nase | |
| fluchtartig ins Freie huschen. | |
| Bezeichnenderweise gleicht der Durchgang zum Urologen dem Inneren einer | |
| Harnröhre, eng, finster und nach Pisse stinkend. Das muss dieser Duft der | |
| Großstadt sein, von dem immer alle reden. | |
| Und da gibt es viele Düfte. Als ich zwischen dem Flughafen Tempelhof und | |
| der damaligen Kindl-Brauerei wohnte, konnte ich je nach Windrichtung die | |
| Brauerei riechen, oder im Sommer bei offenem Fenster das Kerosin der | |
| landenden Flugzeuge. Unweigerlich befiel mich jeweils entweder die Lust auf | |
| Bier oder die auf Flugreisen. Auch im Industriegebiet südlich der | |
| Neuköllner Grenzallee, wo ich verschiedene Fabrikjobs hatte, rochen die | |
| Betriebe. Zum Teil sogar gut. Irgendwo war eine Riesenkaffeerösterei, und | |
| der Kuchendiscounter Thoben hatte dort seine Backfabrik. | |
| Daran muss ich denken, als ich in der Harnröhre das Rad abschließe, während | |
| ich die Luft anhalte. Der stechende Gestank raubt mir fast den Atem, aber | |
| gleichzeitig habe ich auch eine Epiphanie: Aha, denke ich, Kindl – Bier, | |
| Thoben – Kuchen, Urologe – Urin. Das alles ist im Prinzip nichts anderes | |
| als Geruchswerbung. Die Methode verfängt bei mir auch jedes Mal todsicher, | |
| sobald ich an einem Hähnchenimbiss bloß von Weitem vorbeikomme. Allein vom | |
| Duft kriege ich da immer sofort Appetit auf Hähnchen. | |
| Allerdings weicht die vom Aroma befeuerte Vorfreude hinterher stets einer | |
| seelischen Leere: Warum habe ich das getan? Das arme Tier schmeckt ja noch | |
| nicht mal gut. Warum können die nicht einfach nur diesen geilen Geruch | |
| verkaufen? | |
| Aber so funktioniert das eben. Kapitalismus schafft Bedürfnisse. Und analog | |
| kommen hier die Leute vorbei, riechen die Pisse, sehen die gelben Gesichter | |
| und das Praxisschild und denken sich: Genau, jetzt weiß ich wieder, ich | |
| wollte doch längst mal zum Urologen. Und, bäng, schon hat der einen neuen | |
| Kunden. | |
| Ein paar Schritte weiter in die Harnröhre hinein wird der Geruch noch | |
| intensiver. Ich glaube nicht, dass es ausschließlich daran liegt, dass ich | |
| mich der Praxis mit all ihren undicht leckenden Patienten darin nähere. | |
| Links geht es eine Treppe hoch, auf eine Art Galerie im ersten Stock. | |
| Hier zeigt sich einmal mehr das leidige Misstrauen gegenüber der ehrbaren | |
| Gilde der Drogensüchtigen, denn am oberen Ende der Treppe befindet sich | |
| eine offene Gittertür, die nachts geschlossen wird, damit die Praxisräume | |
| und Büros dort nicht aufgebrochen werden. Unterhalb dieser Tür muss ich | |
| über einen quer auf den Stufen lagernden Typen hinwegsteigen, der sich dort | |
| zum Frühstück [1][eine Substanz aufkocht]. Was für eine, müsste ich raten, | |
| doch Kaffee ist es jedenfalls nicht. Den macht man ja nicht auf einer | |
| Alufolie, das weiß ich. | |
| „Bin gleich weg“, beschwichtigt mich der junge Herr. Aus ihm spricht die | |
| Erfahrung, nirgends willkommen zu sein. Aber ich bin hier nicht der | |
| Hausmeister und auch kein Mieter. Kein Problem, beschwichtige ich ihn, | |
| meinetwegen soll er hier in Ruhe frühstücken. Ich bin selbst nur ein | |
| einfacher Patient der Urologie, ein Prostatajunkie, der [2][sein trübes | |
| Pipi] im spiralförmig gedrehten Strahl vertröpfelt, ohne die Blase jemals | |
| ganz zu leeren. So rein statusmäßig sitzen wir im doch im gleichen Boot. | |
| 21 Nov 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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