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# taz.de -- Essay über moralische Bequemlichkeit: Auf der richtigen Seite der …
> Geschichte ist Chaos, das wir im Nachhinein versuchen, mit Sinn zu
> füllen. Über Fortschrittsglauben und die Angst vor Sinnlosigkeit.
Bild: Wer reitet so spät auf der richtigen Seite der Geschichte?
Kürzlich sprach ich mit einem Kollegen, den ich vor einigen Jahren in einem
anderen beruflichen Zusammenhang kennengelernt hatte. Irgendwann sagte er
zu mir, jetzt würde man ja endlich auf der richtigen Seite der Geschichte
stehen. Dann sagte er etwas anderes, aber darum geht es jetzt nicht.
Die richtige Seite der Geschichte also. Wusste ich gar nicht, dass ich auf
der gerade stehe. Ich wusste aber auch nicht, dass die Geschichte überhaupt
eine richtige und eine falsche Seite hat. Und dann dachte ich, dass ich
diesen Begriff von der „richtigen Seite der Geschichte“ in den vergangenen
Monaten auch vielleicht drei-, viermal zu oft gehört hatte und es immer
merkwürdig klang. Aber jetzt wurde ich da ja plötzlich selbst verortet,
ohne meinen Willen, deshalb wollte ich herausfinden, was es eigentlich mit
der richtigen Seite der Geschichte auf sich hat und ob ich da überhaupt
stehen will.
In jedem Fall ist es auf der richtigen Seite seit einiger Zeit ziemlich
voll: Der [1][chinesische Staatspräsident Xi Jinping erkannte im Frühjahr]
seine Verbündeten auf der richtigen Seite der Geschichte; Spaniens
Premierminister [2][Pedro Sánchez nannte den Wunsch nach diesem Ort] als
Grund dafür, dass er ein Waffenembargo gegen Israel forderte; der Philosoph
Jan Skudlarek stellte 2023 fest: „Robert Habeck stand auf der richtigen
Seite der Geschichte.“
Anfang 2025, es war Wahlkampf, r[3][ief Christian Lindner in Freiburg
einigen Demonstranten,] die seine Rede störten, zu: „Ihr steht auf der
falschen Seite der Geschichte.“ Was ja im Umkehrschluss bedeutet, dass
Lindner auf der richtigen Seite steht. 2023 erkannte die [4][„Zeit“], dass
Joe Biden auf der richtigen Seite der Geschichte stand, [5][wo übrigens
seit 2016 auch Angela Merkel steht], jedenfalls wenn es nach Barack Obama
geht.
## Alle wollen da hin
Zwei Jahre später gesellte sich auch Belgien dazu, ja, ganz Belgien, denn
der damalige [6][belgische Ministerpräsident Charles Michel stellte das für
sein Land beim UN-Sondergipfel für den Migrationspakt fest]. Ach, und
natürlich steht auch die SPD auf der richtigen Seite der Geschichte,
jedenfalls [7][versicherte das 2021 Olaf Scholz dem verdutzten Armin
Laschet]. Und heute möchte ja auch gerne jeder Deutsche endlich mal auf der
richtigen Seite der Geschichte stehen, deshalb ist man gegen Trump, trennt
den Müll, kennt seine Privilegien, hört Podcasts über mentale Gesundheit,
kauft Bücher in der kleinen, netten Buchhandlung ums Eck, hasst RB Leipzig,
kennt den Unterschied zwischen „toxisch“ und „problematisch“ und findet…
neue Taylor-Swift-Album unterkomplex.
Das Dumme ist nur, dass die Geschichte ja voll ist mit Menschen, die sich
schon mal auf der richtigen Seite sahen und dann durch die Geschichte
selbst eines Besseren belehrt wurden: Im 11. Jahrhundert zogen Kreuzritter
los in der Annahme, sie kämpften im Auftrag Gottes und seien das Werkzeug
der Geschichte; im 16. Jahrhundert hielten spanische Konquistadoren die
Christianisierung Lateinamerikas für Zivilisation, nicht für Eroberung; im
19. Jahrhundert glaubten Kolonialmächte, sie trügen „Fortschritt und Licht�…
in die Welt – und exportierten Gewalt, Rassismus und Ausbeutung; im 20.
Jahrhundert waren Bolschewiki, Faschisten und Neoliberale auf ihre je
eigene Weise überzeugt, Geschichte zu vollstrecken. Es scheint fast so,
dass die richtige Seite der Geschichte fast immer die falsche ist – nur
eben später.
Trotzdem wollen da alle hin – nur warum? Vielleicht weil sie glauben, dass
„die Geschichte“ einem Zweck folgt, dass sie Sinn ergibt und dass am Ende
der Geschichte die, die auf der guten Seite standen, belohnt werden und
die, die auf der falschen Seite standen, bestraft. Ist allerdings im
Prinzip ein alter Hut, mit dem schon Augustinus im 4. und 5. Jahrhundert
hausieren ging.
Für ihn war Geschichte vor allem Heilsgeschichte, Ausdruck einer göttlichen
Vorsehung. Hegel säkularisierte diesen Gedanken 1.400 Jahre später:
Geschichte war für ihn nicht bloß eine Abfolge von Ereignissen, sondern ein
prozesshafter Ausdruck des Weltgeistes, der sich in der Zeit entfaltet –
jetzt mal vereinfacht ausgedrückt. Das würde bedeuten, dass Geschichte nach
vorne geht, dass sie Vernunft besitzt, dass sie Sinn ergibt.
Marx, der Hegel unfallfrei lesen konnte, stellte diesen Gedanken vom Kopf
auf die Füße. Anstelle des „Geistes“ setzte er den ökonomischen Unterbau:
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von
Klassenkämpfen.“ Für Marx ist der Lauf der Geschichte gesetzmäßig, das Zi…
– die klassenlose Gesellschaft – vorgezeichnet. Aus Theologie wird
Ökonomie, aus idealistischer Dialektik materialistische. Von dieser fixen
Idee scheinen sich einige Linke bis heute nicht erholt zu haben, da kamen
selbst Walter Benjamin und Michel Foucault nicht gegen an.
Benjamin wendet sich explizit gegen den Fortschrittsglauben von Hegel und
Marx. In seiner berühmten „These IX“ über den Begriff der Geschichte
beschreibt er den Engel der Geschichte, der rückwärts in die Zukunft
stürzt: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, sieht er eine
einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft.“
Geschichte hat keinen Sinn und keinen Plan. Und Foucault zerschlägt die
klassische Geschichtsvorstellung als kontinuierlichen Prozess oder
Fortschritt. Geschichte ist für ihn kein Strom, sondern ein Netz aus
Diskursen, Machtverhältnissen und Brüchen. Es gibt kein Ziel, keinen
Fortschritt, keine Moral – nur Macht und Diskurs. Spätestens da hätte man
sich darauf einigen können, dass Geschichte keinen Sinn hat. Blöd halt nur,
dass der Mensch ohne Sinn nicht leben will.
Der Glauben an den Sinn der Geschichte hat den Glauben an Gott abgelöst.
Daraus entsteht die Hoffnung, dass sich alles zum Guten wendet. Aber so
funktioniert Geschichte nicht. Geschichte ist Chaos, das wir im Nachhinein
versuchen, mit Sinn zu füllen. Und die „richtige Seite“ klingt zwar nach
moralischer Gewissheit, ist aber philosophisch hohl, denn sie setzt ja
voraus, dass die Geschichte nur zwei Seiten habe – und dass diese Seiten
moralisch bestimmbar seien.
Aber Geschichte urteilt nicht – Menschen urteilen. Die Metapher von der
„richtigen Seite“ ist also ein rhetorischer Trick, der Moral in
Notwendigkeit verwandelt. Der Trick ersetzt Argument durch Heilsglaube. Wer
sich auf die „richtige Seite“ stellt, beansprucht implizit die Zukunft für
sich und seinesgleichen. Dadurch wird aber jede politische
Auseinandersetzung in ein Geschichtsdogma verwandelt. Schon komisch, dass
ausgerechnet Linke an dieser säkularisierten Form des Heilsplans
festhalten. Aus dem „Reich Gottes“ wurde die „klassenlose Gesellschaft“,
aus Erlösung Fortschritt. Geschichte, so der Irrglaube, sei immer
Fortschritt, und im Moment besteht dieser Fortschritt unter anderem aus
Diversität, Klimagerechtigkeit, Antifaschismus.
Dieses magische Denken bietet Orientierung, Sicherheit – und Kontrolle. Es
gibt ja überall, links, rechts, mitten in der Mitte, diese autoritäre
Sehnsucht, alles kontrollieren zu wollen: das ZDF, Instagram, Chefgehälter,
Begehren, Pronomen, Kitaerzieher … Wer also glaubt, die Geschichte, auf
deren richtiger Seite man ja bombenfest steht, würde einen Sinn ergeben,
der will das Unkontrollierbare zähmen.
Aber Geschichte ist unübersichtlich und grausam. Das ist allerdings für
viele nur schwer zu ertragen, deshalb sucht man nach Mustern, Zielen,
Gesetzen, denn die Vorstellung eines Plans – völlig wurscht, ob göttlich,
dialektisch oder moralisch – beruhigt ungemein, vor allem das eigene
Gewissen.
Doch der Glaube an den Sinn der Geschichte ist nicht emanzipatorisch,
sondern ein Versuch, Angst und Ohnmacht zu kontrollieren. Er produziert
Gewissheit – und damit Autorität. Und hier verläuft die eigentliche
Bruchlinie: Wer behauptet, den Sinn der Geschichte zu kennen, leitet daraus
politische Notwendigkeit ab. Und dadurch entsteht die Legitimation, zu
steuern, zu disziplinieren, zu sanktionieren. Dabei sollten man doch genau
dieser Gewissheit misstrauen, denn die Berufung auf den Sinn der Geschichte
ist selbst eine Form von Herrschaft. Emanzipation müsste aber eigentlich
bedeuten, ohne eine solche Gewissheit zu handeln.
Vielleicht werde ich meinen Kollegen mal auf der richtigen Seite der
Geschichte besuchen. Aber ich bleibe nicht lange. Es gibt dort ja nichts zu
tun.
11 Nov 2025
## LINKS
[1] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/die-neue-weltordnung-des-xi-…
[2] https://www.deutschlandfunk.de/spanien-verkuendet-waffenembargo-gegen-israe…
[3] https://www.facebook.com/lindner.christian/videos/auf-der-richtigen-seite-d…
[4] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-10/joe-biden-nahostkonflikt-ukrain…
[5] https://www.zeit.de/politik/ausland/2016-11/angela-merkel-barack-obama-usa-…
[6] https://www.sueddeutsche.de/politik/belgien-ruecktritt-michel-migrationspak…
[7] https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/olaf-scholz-und-die-richt…
## AUTOREN
Matthias Kalle
## TAGS
Weltgeschichte
Moral
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