# taz.de -- Schreibender Kriminalist: Vom Kämpfer für Randgruppen zum Nazi | |
> Vor 100 Jahren erschien „Mörder“, das Buch des Ex-Kriminalkommissars | |
> Gotthold Lehnerdt. Der startete in den 1930ern eine Karriere in der | |
> NSDAP. | |
Bild: Im Berliner Reichskriminalpolizeiamt, 1920er Jahre | |
Berlin taz | Es ist die Nacht zum 10. September 1919, fast einen Monat | |
nachdem Reichspräsident Ebert die Weimarer Reichsverfassung unterzeichnet | |
hat. Kriminalkommissar Gotthold Lehnerdt vom Berliner Polizeipräsidium | |
bekommt von einem Informanten einen heißen Tipp: Er soll seine Schritte | |
zügig in Richtung Kolibri-Bar in Schöneberg lenken, wo um die 100 Menschen, | |
darunter ein von Lehnerdt gesuchter Schwerverbrecher, irgendetwas feiern. | |
Schon länger ist Lehnerdt nämlich zwei Mitgliedern einer Räuberbande auf | |
den Fersen: Walter Burgass und Fritz Ellisen. Die beiden gefürchteten | |
Ringkämpfer hatten einen Möbelhändler brutal überfallen und wurden dafür | |
vom außerordentlichen Kriegsgericht zu je zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. | |
Doch den beiden bleischweren Jungs ist die Flucht aus dem | |
Stadtvogteigefängnis gelungen, noch bevor man sie ins Zuchthaus hat | |
überführen können. | |
Und so kommt es in dieser Nacht in dem berüchtigten Verbrecher-Hotspot in | |
der Motzstraße 65 zur Auseinandersetzung zwischen der Polizei und einem der | |
Stammkunden. Es ist Fritz Ellisen, der sich zu flotter Tanzmusik wiegt, | |
natürlich mit einer ebenso zwielichtigen Dame im Arm. Zugriff! Die Beamten | |
stürmen die Bar, und Lehnerdt stürzt sich blitzschnell auf Ellisen. | |
Der Verbrecher macht daraufhin Anstalten, den Kommissar mit einem Stuhl zu | |
erschlagen, so dass der ihn anschießt. Ellisen scheint nur leicht verletzt | |
zu sein, der Kampf wird in der Küche fortgesetzt. Ein zweiter Schuss | |
ertönt, und weiter geht es auf den Hof. Erst der dritte Schuss aus | |
Lehnerdts Pistole macht den Verbrecher handlungsunfähig, mit der | |
Kraftdroschke wird er ins nächste Krankenhaus transportiert. | |
Lebensgefährlich verletzt ist er nicht: Immerhin kann er noch Morddrohungen | |
gegen Lehnerdt ausstoßen, der an diesem Abend seinen wohl gefährlichsten | |
Einsatz als Kriminalkommissar erlebt hat. | |
Die Festnahme macht Schlagzeilen, die Umstände werden von den Berliner | |
Zeitungen akribisch beschrieben. Das rückt auch Kriminalkommissar Lehnerdt | |
als Leiter des Raubdezernats in den Fokus des öffentlichen Interesses, | |
verleiht ihm die Aura eines tollkühnen Helden, der fast übermenschliche | |
Kräfte an den Tag gelegt hat. | |
## Berufswunsch: Offizier | |
Wer ist der Mann, der diesen spektakulären Einsatz leitet und den er zudem | |
in seinem Buch „Mörder“ im Jahr 1925 festhalten wird? Gotthold Lehnerdt | |
wird am 15. März 1885 in Berlin geboren. Sein Vater ist preußischer | |
Münzmeister und Hauptmann der Reserve. Auch Gotthold will Offizier werden, | |
da ist er 19 Jahre alt. Ostern 1904 besteht er sein Abitur am Köllnischen | |
Gymnasium und tritt als Fahnenjunker in ein Infanterie-Regiment in | |
Neuruppin ein. Das Offiziersexamen besteht er mit „Gut“, so dass er 1907 | |
Adjutant des Infanterieregiments wird. | |
Doch nur drei Jahre später macht ihm ein Sturz vom Pferd einen Strich durch | |
die Rechnung. Die militärische Karriere ist perdu, zum Ersatz wird ihm die | |
preußische Obrigkeit in Form des Berliner Polizeipräsidiums. Am 1. November | |
1910 tritt Lehnerdt als Kriminalanwärter und „beurlaubter Offizier“ seinen | |
Dienst an, im Mai 1912 besteht er das Examen als Kriminalkommissar mit | |
„sehr gut“. Am 28. Juli 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. Nichts wird mehr | |
so sein wie früher. Lehnerdt, der eigentlich für „feld- und | |
garnisonsuntauglich“ erklärt worden ist, meldet sich trotz angeschlagener | |
Gesundheit freiwillig ins Feld. | |
Nach der Novemberrevolution und dem Ende der Monarchie am 9. November 1918 | |
kehrt er wieder in den Kriminaldienst zurück und spezialisiert sich auf | |
Raub und Raubmord. Es wird seine große Zeit, die jedoch nicht von langer | |
Dauer ist. | |
Spektakuläre Fälle halten die Bevölkerung in Atem. Lehnerdt löst sie alle. | |
Unter anderem der grausame Muttermord in der Kreuzberger Brandenburgstraße, | |
wo ein 22-Jähriger seine Mutter aus Habgier ermordet und dann verbrennt, um | |
die Tat zu vertuschen, prägt sich im kollektiven Gedächtnis ein. Aber auch | |
die Verhaftung des Raubmörders Anton Ludwig wird von der Presse | |
sensationalisiert. In einer Zeit, in der der Name des ermittelnden | |
Kommissars in jedem Bericht über einen Kriminalfall auftauchte, wird | |
Lehnerdt stadtbekannt. | |
Das Jahr 1921 markiert einen weiteren großen Wendepunkt in seinem Leben. | |
Lehnerdt quittiert den Dienst im Polizeipräsidium und verliert jegliche | |
Pensionsansprüche. Über die genauen Gründe schweigt er sich aus, er deutet | |
lediglich einen „schweren Zusammenstoß mit dem Preußischen Innenminister“ | |
an. Ob der Streit politischer Natur war oder die Konsequenz einer | |
beruflichen Verfehlung – mindestens zwei Mal wird Lehnerdt „Amtsanmaßung“ | |
vorgeworfen –, bleibt offen. | |
In der Folge macht sich Lehnerdt als Schriftsteller und Kriminalist | |
selbstständig. Mittlerweile hat er geheiratet, mit seiner Ehefrau und einem | |
Sohn, der ebenfalls Gotthold heißt, lebt er am Ku’damm. Zunächst scheinen | |
die Geschäfte gut zu laufen, er zehrt von seinem guten Ruf als Kriminalist. | |
Nach dem Mord am liberalen Außenminister Walther Rathenau, der am 24. Juni | |
1922 in Grunewald auf der Fahrt ins Auswärtige Amt von Angehörigen der | |
Organisation Consul erschossen wird, ist er einer der Grabredner. | |
Zu dieser Zeit ist Lehnerdt ohne politische Zugehörigkeit, sympathisiert | |
aber mit der Deutschen Demokratischen Partei, deren Mitgründer Rathenau | |
war. Lehnerdt lebt in einer Zeit, in der der demokratische Zeitgeist immer | |
öfters einen neuen Blick auf „den Verbrecher“ fordert, vor allem vor | |
Gericht: Er soll als Summe seiner Veranlagungen gesehen werden, aber vor | |
allem als Mensch, dem man eine Läuterung zugesteht. „Niemals grundsätzlich | |
und urteilslos den Verbrecher verdammen“, schrieb Lehnerdt daher 1925 auch | |
im Vorwort zu seinem Buch „Mörder“. | |
Zu dieser Zeit sympathisiert Lehnerdt auch ganz offen mit | |
gesellschaftlichen Außenseitern. Er will Randgruppen wie Schwule und | |
Prostituierte entkriminalisieren, dazu hält er einige öffentliche Vorträge, | |
auch gemeinsam mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld in dessen | |
Berliner Institut. Ebenso verfasst er einen Text für das von Ludwig | |
Levy-Lenz 1926 herausgegebene Buch „Sexual-Katastrophen“, in dem er seine | |
Beobachtungen über die Prostitution mitteilt. Er verurteilt die Kuppler und | |
Zuhälter aufs Schärfste und fordert Mitleid für die Prostituierten. | |
Bis 1927 verdient Lehnerdt seinen Lebensunterhalt vor allem mit dem | |
Schreiben von Fachartikeln über Kriminalistik sowie weitere | |
schriftstellerische Arbeiten. Danach schwenkt er auf die Bekämpfung des | |
Versicherungsschwindels um. | |
Als Reichspräsident Paul von Hindenburg 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler | |
ernennt, gibt es den Lehnerdt, der sich als Kämpfer für geächtete | |
Randgruppen sieht, nicht mehr. Die „Sexual-Katastrophen“ werden bald | |
verboten, zudem wird im Februar Lehnerdts Buch über den „Fall Meußdoerffer�… | |
auf Anordnung des Reichspräsidenten „zum Schutz des deutschen Volkes“ im | |
Freistaat Preußen beschlagnahmt und eingezogen. | |
## Ein Posten im „Gau Berlin“ | |
Am 1. Mai 1933 tritt Lehnerdt in die NSDAP ein, vier Jahre später ist er | |
zum Politischen Leiter der Ortsgruppe Sybelstraße in der | |
NS-Verwaltungseinheit „Gau Berlin“ aufgestiegen. Gleichzeitig ist die | |
Revitalisierung seiner schriftstellerischen Karriere zum Greifen nahe, doch | |
dann bremst ihn eine schwere Krankheit aus. Sie zerstört seinen Traum, | |
unter dem Nazi-Regime ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, den er | |
sich nicht zuletzt durch seinen Gesinnungswechsel erkauft hat. | |
Am 21. Februar 1941 wendet sich die „Reichsschrifttumskammer“ an das | |
Einwohnermeldeamt am Alexanderplatz, um die neue Anschrift ihres Mitglieds | |
Gotthold Lehnerdt zu erhalten, nachdem ein an ihn adressierter Brief nicht | |
zugestellt werden konnte. Doch das Amt kann nur noch den Tod Lehnerdts | |
mitteilen: Bereits am 13. August 1940 ist er im Reservelazarett 111 in | |
Tempelhof an den Folgen der Basedowschen Krankheit verstorben – eine | |
Autoimmunerkrankung, die in schweren Fällen zu einer tödlichen | |
Schildrüsenhormonvergiftung führt. | |
In Berlin findet der Tod Lehnerdts keine große Beachtung mehr. Novellen wie | |
„Unterwegs. Abenteuer aus der Großstadt“ und „Die Brüder von St. Johann… | |
die er bereits geschrieben hat und die von einem Verlag angekündigt worden | |
sind, bleiben unveröffentlicht. Seine politische 180-Grad-Wendung hat ihm | |
nichts genutzt. Erfolgreich werden jetzt andere. | |
31 Jul 2025 | |
## AUTOREN | |
Bettina Müller | |
## TAGS | |
NSDAP | |
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