# taz.de -- Philosophin über angenehmen Schmerz: „Die Leute denken meistens … | |
> Philosophin Teresa Geisler bestätigt, dass es Schmerzlust gibt. Sie setzt | |
> sich dafür ein, dass das auch wissenschaftlich anerkannt wird. | |
Bild: Das Tatoo – ein Lifstyle unter Schmerz erworben | |
taz: Frau Geisler, die Lust am Schmerz, was ist das überhaupt? | |
Teresa Geisler: Wenn ich über Schmerzlust spreche, denken die Leute | |
meistens zuerst an BDSM, also masochistische sexuelle Praktiken, und dann | |
Borderline, also eine psychische Erkrankung. Aber Schmerzlust hat erst mal | |
nichts mit Sex oder Krankheit zu tun. Es gibt viele alltägliche Phänomene, | |
wo eine Lust am Schmerz da zu sein scheint, zum Beispiel beim scharfen | |
Essen oder in der Sauna, wenn die Haut anfängt zu brennen, oder beim Dehnen | |
im Yoga. Wenn wir uns lustvoll an einem Mückenstich kratzen oder wenn | |
kleine Kinder an einem Zahn wackeln, bis an den Punkt, wo es zu doll weh | |
tut, und dann wieder aufhören. | |
taz: Das sind interessante Alltagsbeobachtungen. Wieso sind sie für die | |
Philosophie relevant? | |
Geisler: In so gut wie allen wissenschaftlichen Definitionen geht es um | |
Schmerz als unangenehme Erfahrung. Diese Definitionen sind auch bewährt und | |
anerkannt. Als Philosophin hat mich [1][die paradoxale Natur von | |
Schmerzlust] interessiert: Wenn Schmerz notwendig unangenehm ist, dann | |
scheint in der Schmerzlust eine unangenehme Erfahrung lustvoll, also | |
angenehm zu sein. In der Philosophie fragen wir nicht nur, „Wie reden wir | |
über Schmerz?“, sondern auch „Was sollten wir unter Schmerz verstehen?“ | |
Dazu gibt es noch viel zu sagen. Bis heute gibt es wenig systematische | |
Untersuchungen. | |
taz: Wie gehen Sie vor, um das philosophische Problem zu klären? | |
Geisler: Ich betrachte Schmerzlust aus einer phänomenologischen | |
Perspektive. Das ist eine Strömung innerhalb der Philosophie, die den Fokus | |
auf die eigene Erfahrung legt. Das steht im Gegensatz zur gängigen | |
wissenschaftlichen Praxis, die meist von der Dritte-Person-Perspektive | |
ausgeht. Dabei ist wichtig, immer wieder auf die eigene Erfahrung | |
zurückzublicken und sie akribisch und vorurteilsfrei zu analysieren und zu | |
beschreiben. Ich habe zum Beispiel viele Wasabinüsse gegessen, um die | |
Empfindung detailliert beschreiben zu können. | |
Damit ich meine Erfahrungen nicht naiv verallgemeinere, führe ich lange, | |
qualitative Interviews. Ich spreche ein bis drei Stunden mit Menschen, für | |
die Schmerz eine wichtige Rolle im Leben spielt, zum Beispiel weil sie sich | |
selbst als Masochisten bezeichnen, als Künstler:innen mit Schmerz | |
arbeiten oder seit ihrer Kindheit chronische Schmerzen haben. Die | |
Schilderungen sind oft sehr metaphorisch und die gilt es dann auszudeuten. | |
Natürlich setze ich mich auch intensiv mit der Literatur über Schmerz | |
auseinander. | |
taz: Was hat die Schmerzlust mit problematischen Schmerzen zu tun, mit | |
denen Menschen zu Ärzt:innen und Therapeut:innen gehen? | |
Geisler: Ich bemühe mich sehr, den Schmerz nicht zu harmonisieren. Das wird | |
ihm nicht gerecht. Aber ich greife das negative Empfinden von Schmerz als | |
notwendiges Merkmal an und argumentiere, dass sein Empfinden aversiv ist. | |
Das heißt, dass er weh tut, wesentlich ist. Wir erleben im Schmerz, dass | |
etwas gegen uns andrängt, dass etwas drückt oder pocht oder sticht und wir | |
da irgendwie von wegwollen. Wir erleben eine Gegenbewegung in uns. Wenn es | |
sich um bewussten Schmerz handelt, der nicht bedrohlich ist, kann er | |
manchmal auch genossen werden. | |
taz: Ist Schmerz ein Beweis, lebendig zu sein? | |
Geisler: Schmerz ist ein Zustand, der ein Weltverhältnis ausdrückt. So wie | |
sich meine Sicht auf die Welt verändert, wenn ich verliebt bin, verändert | |
sich die Welt auch, wenn ich Schmerzen habe oder schmerzhaft berührt bin. | |
Ich argumentiere, dass wir sowohl im körperlichen wie auch im emotionalen | |
Schmerz auf einer sehr grundlegenden, leiblichen Ebene unsere | |
Verletzbarkeit erfahren – und die ist oft zu Recht eine Bedrohung. Aber | |
eben nicht immer. Sie hat auch eine Kehrseite, die Berührbarkeit. Die kann | |
eine Möglichkeit sein, Verbundenheit zu erleben. Wenn ich Songs von Nick | |
Cave oder Amanda Palmer höre, werde ich schmerzhaft ergriffen. Es sind | |
Lieder, die mir wehtun, aber es ist ein schöner Schmerz, weil ich mich mit | |
der Welt und anderen Menschen verbunden fühle. | |
taz: Nicht nur die Rezeption von Kunst und Musik kann uns schmerzhaft | |
berühren. In der Kunst wird der Schmerz auch oft gebraucht, um überhaupt | |
erst produktiv zu werden. | |
Geisler: Das Klischee, dass Künstler:innen den Schmerz brauchen, will | |
ich nicht bedienen. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, wie man Kunst machen | |
kann. Aber es gibt natürlich Künstler:innen, wie zum Beispiel [2][Marina | |
Abramovi]ć, für die der Schmerz eine große Rolle spielt. In ihrer | |
Autobiografie beschreibt die Performancekünstlerin den Schmerz als Kraft, | |
der in der Lage ist, den Raum, die Atmosphäre und sie selbst zu verändern. | |
taz: Ihre Perspektive regt an, darüber nachzudenken, in welcher Hinsicht | |
man selbst Gefallen oder Genuss am Schmerz findet. Gehen Sie so weit zu | |
sagen, dass jeder Mensch das Phänomen kennt? | |
Geisler: Mit Allaussagen muss man immer vorsichtig sein. Aber ehrlich | |
gesagt, ich glaube, dass eigentlich jeder Schmerzlusterlebnisse auf einer | |
sinnlichen Ebene kennt, wie das lustvolle Kratzen bei einem Mückenstich. | |
Hier scheint es so zu sein, dass sich die scharfe und auch ganz eindeutige | |
Empfindung des schmerzhaften Kratzens gegen die komische, diffus breiige | |
Empfindung des Juckens richtet. Gerade im Verbund mit anderen Empfindungen | |
kann sich der leicht aversive Schmerz gut anfühlen. | |
taz: Lehrt uns der angenehme Schmerz etwas über den unangenehmen Schmerz? | |
Geisler: Meine Arbeit kann vielleicht dazu beitragen, dass wir den Schmerz | |
ein bisschen anders betrachten. Wie wir Schmerz erleben, ist von vielen | |
Faktoren abhängig. Dazu gehört die Bedeutung des Schmerzes und die | |
Situation, in der wir den Schmerz empfinden. Eine Frau hat mir | |
beispielsweise erzählt, dass sie drei Kinder zur Welt gebracht hat. Die | |
ersten beiden Geburten seien für sie sehr schlimme Erfahrungen gewesen, | |
weil sie dachte, dass sie den Schmerz vermeiden muss. Erst bei der dritten | |
Geburt habe sie gemerkt, dass der Schmerz nicht bedrohlich ist, dass sie | |
ihn annehmen und auch durch ihn hindurchgehen kann. Dadurch habe sich das | |
Geburtserlebnis vollkommen verändert, zu einer schönen, intensiven und auch | |
innigen Erfahrung. Die Intensität des Schmerzreizes und die Grausamkeit der | |
Erfahrung korrelieren nicht direkt miteinander. | |
taz: Dem Geburtsschmerz ist die positive Seite durch das erwartete Baby | |
bereits eingeschrieben. Haben Sie weitere Beispiele, dass Schmerzempfinden | |
damit zu tun hat, wie wir ihm begegnen oder welche Bedeutung wir ihm | |
zuschreiben? | |
Geisler: Klar, wenn ich schlimme Herzschmerzen habe und aus Angst, dass mit | |
meinem Herzen etwas nicht in Ordnung ist, zum Arzt gehe. Der Arzt schaut | |
sich das an und sagt dann: „Sie haben nur ein bisschen Muskelkater.“ Dann | |
ist der Schmerz sofort nicht mehr so schlimm. Eine Frau hat mir auch | |
erzählt, dass sie im [3][BDSM-Kontext] mit einem Partner Praktiken genossen | |
hat, die ihr bei einem anderen Partner unangenehm waren – ohne dass dieser | |
anders oder falsch geschlagen hätte, einfach, weil die Verbindung | |
zueinander eine andere war. | |
Im Schmerz begegnen wir tatsächlich einer großen Unverfügbarkeit. Das | |
heißt, in gewisser Hinsicht trifft er uns immer unvorbereitet. Dasselbe | |
sehen wir auch bei der Schmerzlust. Man kann sie begrenzt planen. Es | |
passiert mir zum Beispiel, dass ich das Barfußlaufen zunächst genieße und | |
dann an einen Punkt komme, wo es unangenehm wird und ich mich ärgere, keine | |
Schuhe dabei zu haben. | |
taz: Können wir lernen, Schmerz bewusster anzunehmen oder sogar zu | |
genießen? | |
Geisler: Es gibt in BDSM-Ratgebern Übungen, die dazu anleiten. Ich finde | |
den Gedanken spannend, dass Masochismus keine Persönlichkeitseigenschaft | |
ist, sondern durchaus eine Fähigkeit sein könnte. Man kann schon Faktoren | |
beobachten, die sich wiederholen und Situationen herstellen, in denen eine | |
Chance besteht, sich dem Schmerz zu öffnen. Trotzdem bleibt eine gewisse | |
Unverfügbarkeit. | |
taz: Sollten wir als Gesellschaft mehr und offener über Schmerz reden? | |
Geisler: Ich denke, für unser Zusammenleben ist es gut, wenn wir den | |
Schmerz nicht abspalten. Wir neigen dazu, ihn ins Krankenhaus, in | |
Psychotherapien oder ins Private auszulagern. Viele Menschen haben den | |
Eindruck, dass er eigentlich nicht da sein darf und weggemacht gehört. Ich | |
möchte mich dafür einsetzen, dass es ein Recht auf Schmerz gibt und der | |
Schmerz Raum und Zeit braucht. Ich denke, dass Räume, in denen der Schmerz | |
kollektiv erfahren und verarbeitet werden kann, wichtig sind. Der eigene | |
Schmerz ist keine private Empfindung. Wir können ihn teilen und wir können | |
auch Zugang zu dem Schmerz von anderen Menschen haben. | |
28 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://journals.openedition.org/phenomenology/3442 | |
[2] /Hass-auf-Performance-Kuenstlerin/!5678708 | |
[3] /BDSM-und-Christsein/!5936124 | |
## AUTOREN | |
Ilka Sommer | |
## TAGS | |
Schmerzen | |
Philosophie | |
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