# taz.de -- Der Kollaps als Chance | |
> Stillstand und Flutschen: Am Volkstheater Wien zeigen Helgard Haug und | |
> die Gruppe Rimini Protokoll eine „Kipp-Punkt-Revue“ um das | |
> Containerschiff „Ever Given“, das 2021 im Suezkanal stecken blieb | |
Von Sabine Leucht | |
Gleich die erste Szene gibt sich als Zugabe aus, als etwas, was nach dem | |
Ende kommt: Eine fiktive Band entert die Bühne des Volkstheaters und rockt | |
los, als würde sich der Saal tobend nach ihr verzehren. Im Laufe des Abends | |
lernt man drei der sechs Bandmitglieder näher kennen. Man erfährt, dass der | |
begnadete Sänger Adham Elsaid aus Kairo kommt, einst eine Medaillenhoffnung | |
im Schwimmen war und nach einer Polio-Infektion im Rollstuhl sitzt. | |
Michaela Gorsch-Fischer war Schlittschuhläuferin, bis ihre Fußknöchel | |
streikten, und Hana Hazem Arabi hat eine lange Fluchtgeschichte aus Syrien | |
mitgebracht. Auf seinem Sweater prangt in großen gelben Lettern der | |
Schriftzug „Ever Given“. | |
Das ist auch der Titel dieser „Kipp-Punkt-Revue“ von [1][Rimini | |
Protokoll-Mitglied Helgard Haug], benannt nach dem Containerschiff, das | |
2021 sechs Tage lang den Suezkanal blockierte. Unvergessen das Foto, auf | |
dem ein ameisenkleiner Bagger sich abmühte, den Koloss loszueisen. | |
Unvergessen der Schock, den der Vorfall der Weltwirtschaft versetzte: Wie | |
verletzlich unser Wohlstand ist, wie angewiesen darauf, dass die globalen | |
Lieferketten gut geschmiert sind, der Verkehr mit Waren und Rohstoffen | |
flutscht! | |
Um diese beiden Motive – den Stillstand wie das Flutschen – dreht sich | |
alles an diesem Abend, der den Kollaps zur Chance ausruft und das | |
kapitalistische Höher-Schneller-Weiter zum eigentlichen Problem. Schön | |
verdichtete Sätze erzählen davon, die wie in [2][Haugs Erfolgsproduktion | |
„All Right. Good Night“] über die LED-Wand im Hintergrund der Bühne | |
wandern. Aber anders als bei dieser konzertierten Aktion aus kollektivem | |
Lesen und Live-Musik wird hier auch gesprochen – und wieder stärker | |
angeknüpft an das, wofür [3][Rimini Protokoll] eigentlich bekannt ist: Die | |
Arbeit mit Schauspiel-Laien, sogenannten Experten des Alltags. Und da | |
erinnert „Ever Given“ stark an Haugs „Chinchilla Arschloch, waswas“ von | |
2019, worin Menschen mit Tourette und ihre körperlichen und verbalen Ticks | |
nicht nur Raum bekamen, sondern zur Metapher wurden. | |
In Wien wiederholt sich das mit der per LED-Kachel zugeschalteten | |
Künstlerin Marianne Vlaschits: Sie stottert und hat gelernt, das zu einer | |
Stärke umzudeuten. Sie erzählt davon, wie das Stottern zwar den Rhythmus | |
zerstört, aber auch Pausen zum Nachdenken lässt und erst seit der | |
Industrialisierung als Problem wahrgenommen wird. Und sie lädt alle ein, es | |
sich „in den Lücken, Nischen und kleinen Kratern meines Sprechens“ bequem | |
zu machen. | |
Ihre Szenen gehören zu den stärksten an einem Abend, der zu viel nur lose | |
miteinander Verbundenes zusammenzwingt. Hanas Geschichte vom Warten auf | |
Schleuser, in Flüchtlingsbaracken, Containern und schließlich in einem | |
Kaffeehaus in Österreich nimmt den größten Raum ein. Obwohl menschlich und | |
politisch brisant, wird sie zum Exempel für die ruckelnden und immer wieder | |
mutwillig blockierten Reisen „unbestellter“ Menschen verkleinert, während | |
man für „bestellte“ Waren ständig Abkürzungen erfindet. Mal ruckelnd, mal | |
treibend und fließend ist auch die Live-Musik von [4][Barbara Morgenstern] | |
mit dem famosen Daniel Eichholz am Schlagzeug. | |
Doch einige Geschichten in der Geschichte ruckeln über Gebühr, werden auf | |
halbem Wege fallengelassen, wirken konstruiert oder albern: So erzählt zum | |
Beispiel auch die LED-Wand selbst ihre Geschichte vom Feststecken in einem | |
der rund 18.000 Container der „Ever Given“, zwischen Kunsteisplatten, auf | |
denen Michaela auf der Bühne Schlittschuh fährt, Dildos, Mikrochips, | |
Kameras und Chemieprodukten. | |
Am Ende fällt der Abend seinem eigenen Konzept zum Opfer: So lange umarmen | |
seine großen Erzählschleifen den Kollaps und die Langsamkeit, bis es | |
schlicht langweilig wird. | |
16 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /!5964146&SuchRahmen=Print | |
[2] /!5822832&SuchRahmen=Print | |
[3] /!5954686&SuchRahmen=Print | |
[4] /!5984132&SuchRahmen=Print | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |