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# taz.de -- Was heißt mütterlich?
> Helgard Haug von Rimini Protokoll hat mit dem Theater Hora aus Zürich den
> „Kaukasischen Kreidekreis“ bearbeitet. Das Gastspiel lief im Hebbel am
> Ufer
Bild: Das Kind (Robin Gilly) zwischen den Müttern, der Magd Grusche (Simone Gi…
Von Katrin Bettina Müller
Brecht hat das sicher nicht geahnt. Dass die Magd Grusche, die sich in
seinem Stück „Der Kaukasische Kreidekreis“ eines von der Fürstin auf der
Flucht vergessenen Kindes annimmt und tapfer für sein Überleben kämpft,
auch erotische Fantasien hat. Simone Gisler aus dem Züricher Ensemble
Theater Hora aber gibt ihrer Grusche einen übersprudelnden Moment, in dem
sie von ihrer Heirat mit Simon träumt, von einer Hochzeitsreise in die
Karibik und wildem Sex in der Hochzeitsnacht.
Ihre Begeisterung und ihre Freude am Ausmalen dieser Fantasie erfreut
wiederum das Publikum. Damit hat Simone Gisler, eine Schauspielerin mit
Down-Syndrom, nicht nur die Figur der Grusche um eine zusätzliche Farbe
bereichert, sondern nebenbei auch den Diskurs um die Sexualität von
Menschen mit Behinderung berührt. Und um ihre Rechte: auf Lust, auf
Familiengründung, auf eigene Kinder.
Das alles kommt in der Inszenierung, die [1][Helgard Haug vom
Regie-Kollektiv Rimini Protokoll] mit dem Ensemble des [2][Theaters Hora],
in dem viele Profis mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten, entwickelt
hat, spielerisch und wie nebenbei daher. Hättest du gerne ein Kind? Mit dem
Nachdenken über diese Frage, die jeder und jedem auf der Bühne gestellt
wird, wird ein weiterer Kontext von Fragen gestreift. Wie viel
Selbstständigkeit und Verantwortung traut man Menschen mit einer
Behinderung zu? Was gesteht man ihnen zu? Wieso ist das nicht ihre
Privatsache? Was ist privat? Wie schützt man das? Was an der eigenen
Geschichte fließt in meine Rolle? Auch mit diesen Fragen geht die
Inszenierung ungewöhnlich um. Das Ensemble verteilt Bücher im Publikum, mit
privaten Fotografien aus Familienalben, mit Kinderfotos von ihnen und
kurzen biografischen Skizzen, die schmerzhafte Momente in der
Familiengeschichte berühren. Man ahnt, was ihre Persönlichkeiten im Alltag
zu verarbeiten haben. Versteht auch, dass sie nicht alles auf der Bühne
preisgeben wollen. Die Bücher müssen die Zuschauer nach der kurzen Lektüre
wieder abgeben.
Das Regiekollektiv Rimini Protokoll ist dafür bekannt, mit Laien und deren
Wissen über Spezialgebiete des Alltags zu arbeiten. In „Chinchilla
Arschloch, waswas“ arbeitete Helgard Haug mit Christian Hempel zusammen,
der mit einem Tourette-Syndrom lebt und schon da musste sie lernen, sich
auf einen anderen Rhythmus einzulassen. Rimini Protokoll ist gut darin,
einen schützenden Rahmen für seine Protagonisten auf der Bühne zu bauen.
Das hat sicher die Schauspielchefin der Salzburger Festspiele, Bettina
Hering, dazu veranlasst, Helgard Haug zu beauftragen, mit dem Theater Hora
eine Inszenierung zu machen, möglichst zu einem Stoff aus dem Theaterkanon.
Bei den Salzburger Festspielen war „Der Kaukasische Kreidekreis“ eine
Sensation, das erste inklusive Stück.
Gut, dass Berlin nicht Salzburg ist, und die Inszenierung, die im Hebbel
Theater zu sehen war, nicht als Sensation gelten muss. Schließlich hat die
Stadt zwei Ensembles für Schauspieler:innen mit Behinderungen,
[3][Thikwa] und [4][Ramba Zamba], die auch mit anderen Theatern der Stadt
zusammenarbeiten. Und Hora war schon oft zu Gast in der Stadt, nicht
zuletzt beim Theatertreffen.
Die Inszenierung vom Kreidekreis kreist um eine Szene aus Brechts Drama,
die wiederholt und immer wieder anders gelesen wird: Es geht um die
„Probe“, die der Richter Azdak der Fürstin, der leiblichen Mutter des
Kindes, und der Magd, die das Kind gerettet und großgezogen hat, aufgibt.
Beide streiten darum, wem das Kind „gehört“. Das Kind steht im Kreidekreis,
sie ziehen an seinen Armen. Grusche lässt ihn los, damit es das Kind nicht
zerreißt. Damit bekommt sie bei Brecht das Kind zugesprochen, weil sie die
größere Mütterlichkeit bewiesen hat.
Dieser moralische Kompass bekommt bei Hora aber alternative Narrative an
die Seite gestellt. Könnte nicht das Kind entscheiden? Wo sind seine
Zukunftsaussichten besser? Haben nicht vielleicht auch andere Mitspielende,
wie die Musikerin und der Soldat, mütterliche Qualitäten? Und was überhaupt
heißt mütterlich?
Auf der einen Seite, denkt man beim Zuschauen, ja, ja, interessante Fragen,
aber doch immer nur angerissen. Merkt aber dann, beim nachspüren,
nachdenken am nächsten Tag, dass sich doch überall Perspektivverschiebungen
eingeschlichen haben, dass Fragen und Antworten sich, bezogen auf den
Kontext des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung,
verändern.
Der Abend hat seine Längen, er erzählt verlangsamt und etwas löchrig. Doch
derweil kann man der Schlagzeugerin Minhye Ko zuhören, die Musik stammt von
Barbara Morgenstern. Ko drückt sich lieber mit dem Schlagzeug aus als zu
sprechen, hat man aus dem Buch erfahren. Ob man das als Einschränkung
sieht? Noch so eine offene Frage.
30 Oct 2023
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## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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