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# taz.de -- Neue ICE-Strecke Berlin Paris: Paris, du schöne Rebellin
> Nichts war für mich faszinierender als eine Stadt der Revolution, in der
> sogar Volksrestaurants mondän sind. Zeit für eine zeitgemäße
> Liebeserklärung.
Bild: In Berlin gibt es Volksküchen, in Paris Volksrestaurants: Das Bouillon C…
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich das erste Mal in Paris war, aber ich
weiß noch, wohin mich mein Weg geführt hat. Es war die Place de la
Bastille: Mit der Erstürmung der Festung hat am 14. Juli 1789 die
Französische Revolution begonnen. Als junger Revolutionär gab es für mich
keinen besseren Ort, in die besondere Geschichte dieser besonderen Stadt
einzutauchen. Seitdem weiß ich, dass Schönheit und Revolte kein Widerspruch
sein müssen.
Paris, so behauptete es Walter Benjamin, sei die Hauptstadt des 19.
Jahrhunderts gewesen. Das wurde gerne und begeistert aufgegriffen, und bald
ging die Erzählung, die Belle Epoque habe Paris eine solche Schönheit
verliehen, dass sogar die Nazis vor der Zerstörung der Stadt
zurückschreckten.
Doch Benjamin ging es in seinem [1][Passagenwerk] um etwas anderes. Als
einer der Ersten sah er die Zurichtung der Stadt, die fortan reine
Konsummaschine sein sollte. Auch die Weltausstellung von 1889 kritisierte
er: „Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware.“ Damals
war nicht nur der Eiffelturm feierlich eröffnet worden. Zum 100sten
Jahrestag der Revolution war auch die geschleifte Bastille temporär
rekonstruiert worden.
Mit diesem angelesenen Wissen im Gepäck habe ich damals, Mitte der
achtziger Jahre, die Stadt durchstreift und war dennoch überwältigt von der
Erhabenheit, die sie ausstrahlte. Noch viele Jahre später tauchten
Montmartre, das Marais und die Rue du Fauburg Saint-Antoine in meinen
Träumen auf. Es war die Rive Droite, die Stadt am rechten Seineufer, an der
ich Paris zum ersten Mal begegnet war. Am linken Seineufer war ich damals
nicht.
Rechts der Seine hatte ich auch prächtige Restaurants entdeckt, so genannte
Bouillons, in denen gutes Essen für einen schmalen Geldbeutel serviert
wurde. Einziger Wermutstropfen: Auf der Straße musste man sich in eine
lange Schlange einreihen. So auch im [2][Bouillon Chartier Grands
Boulevards in der Rue Faubourg Montmartre], das es noch heute gibt. Was für
ein Kontrast zu Berlin! Dort gab es Volksküchen, in Paris Volksrestaurants.
Die Stadt, das wusste ich schon damals, hatte mich.
## Blauer Iro und RAF
Der zweite Parisbesuch war in politischer Mission, und diese führte uns auf
die andere Seite der Seine, zur Rive Gauche, ins Quartier Latin und nach
Saint-Germain-des-Prés, wo 1968 die Studentenrevolte tobte. An der
[3][Université VII in Jussieu] wurde zum Jahresende 1986 gestreikt.
Auslöser war der Versuch der Regierung, eine Art Numerus clausus
einzuführen und die Studiengebühren zu erhöhen. Zu einer Vollversammlung
der Studierenden entsandte der AStA der FU, dem ich als Fachschaftsreferent
angehörte, eine Solidaritätsdelegation. Natürlich schwang da der Gedanke
mit: Warum soll, was in Paris möglich ist, nicht auch in West-Berlin
stattfinden können?
Unterwegs in meinem alten Golf rollten wir über Brüssel Richtung Paris,
staunten über die hell erleuchteten belgischen Autobahnen und erlebten in
Frankreich eine Antiterrorkontrolle von Beamten mit gezogenen
Maschinenpistolen. Dass womöglich ich der Grund dafür gewesen war, dämmerte
mir erst im Audimax der Universität in Jussieu. Ob ich der RAF angehöre,
fragte mich ein Medienvertreter. Auf meinen ungläubigen Blick deutete er
auf meine Haare. Ich trug damals einen blauen Iro.
Unterschlupf haben wir in einem besetzten Haus im Süden nahe der
Stadtautobahn Peripherique gefunden. Doch mir dämmerte, dass Paris nicht
mit Berlin zu vergleichen war – Schönheit hat ihren Preis. In dieser Zeit
ist eine Überzeugung in mir gewachsen, wie wichtig es für die
Stadtentwicklung ist, bezahlbaren Wohnraum auch in den Innenstädten zu
erhalten, damit sie nicht zum Ghetto für Wohlhabende werden. In Paris ist
dies, von Belleville vielleicht abgesehen, nur noch in wenigen Quartieren
der Fall.
Teuer war Paris schon damals, aber immer noch aufregend rebellisch. Wir
erlebten auch den Moment, in dem sich die Studentinnen und Studenten mit
anderen sozialen Gruppen verbündet hatten. Bei einer Polizeikontrolle
[4][war im Dezember 1986 der Student Malik Oussekine von einer
Sondereinheit der Polizei zu Tode geprügelt worden]. Zum Trauermarsch kamen
50.000 Menschen, kurz darauf rief die Studentengewerkschaft zu einem
Generalstreik auf. Paris, die Stadt der Revolution, der Kommune und des Mai
1968 fieberte einem weiteren Schlüsseldatum seiner rebellischen Geschichte
entgegen. So jedenfalls wollten wir das damals sehen.
Inzwischen sind viele meiner Bekannten nur noch selten in Paris, und wenn,
dann suchen sie wahrscheinlich, was die Menschen seit 100 Jahren dort
suchen: die Stadt der Liebe, den Sonnenuntergang am Pont Neuf, die viel zu
kleine Mona Lisa.
In den vergangenen Jahrzehnten sind gefühlt sogar mehr Pariserinnen und
Pariser in Berlin gewesen als umgekehrt. Berlin war nicht nur deutlich
günstiger, sondern in all seiner Unfertigkeit auch attraktiver. Das, was
wir als schön empfinden, kann sich verändern.
Wenn ich Paris das nächste Mal besuche, werde ich nichts suchen, sondern
mich treiben lassen. Vielleicht mit einem Leihrad. Denn an der Seine soll
es inzwischen mehr Radspuren geben als an der Spree. Schönheit und Revolte
sind eben nicht alles.
Vielleicht gehört zu einer Stadt des 21. Jahrhunderts auch Entschleunigung.
Bestimmt werde ich versuchen, die Seine herunterzuschippern. Dann muss ich
mich nicht einmal für das rechte oder linke Ufer entscheiden.
16 Dec 2024
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Passagen-Werk
[2] https://www.bouillon-chartier.com/
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Universit%C3%A4t_Paris_VII
[4] /Serie-ueber-Polizeigewalt-in-Frankreich/!5850785
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Paris
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