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# taz.de -- Langweilige Raumdeckung im Fußball: Sprengt die Ketten!
> Wie so oft heutzutage war in dieser EM-Vorrunde die Fünferkette das
> Mittel der Wahl. Der Fußball bräuchte einen neuen, spannenderen Ansatz.
Bild: Österreichs Trainer Ralf Rangnick – bei dieser EM gilt er als das takt…
Man sitzt unterm Stadiondach, der Blick aufs Spielfeld ist gut. Die
taktische Formation tut sich in aller Klarheit auf, was im Fernsehen nicht
immer der Fall ist. Unten bilden sie sich dann, die Ketten. Viererkette in
der Abwehr. Aber meist ist es eine Fünferkette. Teams, die nicht auf
Champions-League-Niveau kombinieren können und sich prinzipiell unterlegen
fühlen, stehen zu fünft bang auf einer Linie.
Die Fünferkette war das Mittel der Wahl bei dieser
Europameisterschaftsvorrunde, eine Sicherheitsvariante, die verdammt
langweilig und ob ihrer Anfälligkeit in der Organisation eines Abseits
ohnehin von gestern ist. Vor der Fünferkette steht zumeist noch eine
Viererkette, davor ein Einzelner – ein lächerliches Offensivrudiment.
Dieser Defensivansatz, fußend auf einem Limes der Einfallslosigkeit,
bestimmt heuer zu oft das Handeln und Denken der Akteure. Träge und
berechenbar wird Letzteres. Angesichts dieser öden Raumherumsteherei
wünscht man sich manchmal die gute alte Manndeckung zurück, den Libero und
den Vorstopper – schlichtweg mehr taktische Flexibilität, also ein
Umschalten zwischen Raum- und Mannverteidigung – oder eine gezielte
Bearbeitung von gegnerischen Schlüsselspielern nach der Methode
Schwarzenbeck. Ja, warum denn nicht? Alles wäre besser als eine
Fünferkette!
Die Fünferkette führt in eine Sackgasse, sie markiert eine Regression im
Fußball, und es ist bezeichnend, wenn Teams, die auf Viererkette setzen,
plötzlich innovativ und fortschrittlich wirken, dabei ist die Viererkette,
hübsch von den Schweizern oder den Deutschen in Szene gesetzt, auch nur ein
Relikt aus dem 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
## Die Dekade des Wandels
Damals begann die Revolution bei Arrigo Sacchis AC Mailand. Dem Libero
wurde der Garaus gemacht. Die Innovation brachte große Erfolge. Ajax
Amsterdam oder Juventus Turin hatten schnell erkannt, dass dieser
Paradigmenwechsel bedeutsam ist, auf Jahrzehnte hinaus, und sprangen früh
auf den Zug auf. In Deutschland dauerte es bis Ende der 90er, Anfang der
Nullerjahre, bis der Libero verschwand. Man hing sehr stark am [1][Prinzip
Beckenbauer]. Es war der Liga in Fleisch und Blut übergegangen.
In einer Dekade des Wandels wurde dann überall auf der Welt die Viererkette
eingeführt. Doch zu Anfang wurden Bundesligatrainer, die eine Viererkette
probierten, gern mal fertiggemacht: Erich Ribbeck beim FC Bayern oder Aad
de Mos bei Werder Bremen.
Einmal verbot Uli Hoeneß persönlich die weitere Verwendung der Kette, ein
anderes Mal sagte Aad de Mos: „Wenn der Gegner nur mit einer Spitze spielt,
brauchen wir hinten nicht vier Leute. Dann rückt einer ins Mittelfeld auf.
Dadurch werden wir noch offensiver und können aggressiver Pressing
spielen.“
Die Viererkette galt als der heiße Scheiß, das Nonplusultra, und
hierzulande war es ein gewisser Ralf Rangnick, der das Neue lehrte. Er war
Trainer in Reutlingen und Ulm, nebenbei fungierte er als Geschäftsführer
eines Reha-Zentrums. Damals sagte er Sätze wie: „In der Trainerausbildung
des DFB spielt Raumdeckung eine ähnlich große Rolle wie die Fidschiinseln
im Erdkundeunterricht.“ Oder: „Geben Sie mir 16 Mittelstreckenläufer. Nach
vier Wochen Übung können die gut ballorientierte Raumdeckung spielen.“
Rangnick hatte begriffen, wohin der Weg im modernen Fußball führt.
## Rangnick, der Pirat
Bei dieser EM gilt [2][Rangnick mit seinen Österreichern als das
Mastermind] schlechthin, was bezeichnend ist für die taktische Qualität des
Championats, denn er macht auch nur, was damals in den 90ern schon en vogue
war: „Pressing heißt, sich den Ball zu erobern – so weit vom eigenen Tor
entfernt wie möglich. Das hat etwas Piratisches an sich.“
Dass Rangnick heuer immer noch als, nun ja, Pirat gilt, ist kein gutes
Zeichen für die Innovationskraft des Fußballs. Soll heißen: Die einst
zwangsläufige Verkettung in der Defensive hat zu einer Starre, ja, zu einem
Vergötzen der Viererkette geführt – mit dem finalen Irrweg der Fünferkette.
Wer die exzeptionelle Langeweile im Spiel – prototypisch im Spiel von
Manchester City zu besichtigen – nicht mehr ertragen mag, wünscht sich eine
baldige Disruption herbei, ein geniales Switchen zwischen Mann- und
Raumdeckung, das mitnichten reaktionär wäre. Der Fußball bräuchte einen
neuen Ansatz: Sprengt die Ketten!
29 Jun 2024
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## AUTOREN
Markus Völker
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