# taz.de -- Maßnahmen in Corona-Pandemie: Lasst die Aufarbeitung beginnen! | |
> Die Debatte über Corona-Maßnahmen muss endlich auch in Deutschland offen | |
> geführt werden. Denn die nächste Pandemie kommt bestimmt. | |
Bild: Unterwegs in Berlin im April 2020 | |
Es ist ziemlich genau vier Jahre her, dass Bund und Länder die ersten | |
Lockerungen der Covid-Schutzmaßnahmen beschlossen. Aktuell wird häufiger | |
gefordert, eine Aufarbeitung der Maßnahmen zu vollziehen: Fangen wir an! | |
Es gilt zunächst festzuhalten, dass die ursprünglich getroffenen Maßnahmen | |
kein völliger Blindflug waren. Zwar war die Situation neu, dass es ein | |
Virus gab, das sich über die Atemwege verbreitet und relativ gefährlich | |
ist. Die Konzepte zur Verhinderung einer gesundheitlichen Katastrophe aber | |
existierten bereits und speisten sich auch aus praktischen Erfahrungen, die | |
unter anderem die WHO bei verschiedenen Ebola-Ausbrüchen in Westafrika | |
gemacht hatte. Aus dieser praktischen Erfahrung heraus war klar, dass die | |
Maßnahmen so umfassend wie möglich sein mussten, um die Ausbreitung so | |
schnell wie möglich in den Griff zu bekommen; und dass erst hinterher klar | |
werden würde, welche Maßnahmen erfolgreich waren und welche nicht. | |
Die damaligen Coronamaßnahmen hatten zwei ausgesprochene Ziele: Schutz der | |
Risikogruppen und des Gesundheitssystems. Zumindest Zweiteres ist teilweise | |
gelungen – anders als in Norditalien stapelten sich keine Särge vor den | |
Krematorien, und die Intensivstationen gingen zwar an ihre | |
Belastungsgrenze, aber zumindest auf dem Papier nicht darüber hinaus. Dass | |
sie doch überlastet waren, lassen Berichte sogenannter stiller Triage | |
vermuten. Stille Triage bedeutet, dass Notaufnahmen Heime in ihrem | |
Einzugsgebiet auf dem kurzen Dienstweg baten, keine Covid-Patient*innen | |
mehr einzugliedern, weil jene ohnehin nicht versorgt werden könnten. | |
Welches Ausmaß diese belegte Praxis hatte, wird meines Wissens (noch) nicht | |
untersucht. | |
Der Schutz der Risikogruppen war ohnehin nur ein vorgeschobenes Ziel. Es | |
war zwar anfangs darüber nachgedacht worden, ob eine Strategie des | |
Containment – oder sogar der Ausrottung des Virus – umsetzbar wäre. Die | |
erforderliche Dauer und der Umfang der Maßnahmen hätten aber vermutlich die | |
Wirtschaft und damit den Wohlstand der Gesellschaft derart geschädigt, dass | |
diese Option schnell verworfen wurde. Damit war klar, dass der Schutz der | |
Risikogruppen nur ein zeitweiliger bleiben würde, den nur eine technische | |
Lösung verlängern könnte: die Impfung. | |
## Arbeitswelt nicht antasten | |
Das unausgesprochene Ziel blieb, das bestehende Gesellschaftssystem zu | |
erhalten. Das bildeten auch die damaligen Maßnahmen recht gut ab: die | |
Beschränkungen betrafen insbesondere den privaten Bereich, während andere | |
[1][präventive Maßnahmen] (Schutzfilter, Maskenpflicht, [2][Homeoffice] | |
etc.) darauf ausgelegt waren, die Arbeitswelt so wenig wie möglich | |
anzutasten. Auch das dürfte die Bereitschaft, diese Maßnahmen hinzunehmen, | |
deutlich gesenkt haben: sie haben die Menschen auf ihre wirtschaftliche | |
Funktion reduziert. | |
Unter diesen Voraussetzungen war auch nicht zu erwarten, dass die Maßnahmen | |
dauerhaft auf Verständnis treffen würden. Entsprechend wurde die | |
Normalisierung des Virus damals schon vorbereitet; irgendwann werde man | |
lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Der Schwenk zu diesem | |
Paradigmenwechsel war endgültig erreicht, als die WHO den weltweiten | |
Gesundheitsnotstand aufhob, was mit einem Ende der Pandemie gleichgesetzt | |
wurde. | |
In Deutschland hat der sich während der Pandemie als Kommunikator sehr | |
verdient gemachte Virologe Christian Drosten diesen Schwenk am | |
eindrücklichsten dokumentiert. Im Oktober 2023 erklärte er in einem | |
[3][Interview mit der Zeit]die Pandemie für beendet. Covid sei „für die | |
meisten Menschen jetzt wie eine Erkältung“. Das Interview weist zwei | |
bemerkenswerte Leerstellen auf: Erstens ist an keiner Stelle die Rede von | |
Long und Post-Covid, also jenen anhaltenden Folgebeschwerden nach einer | |
Infektion, die in Deutschland schätzungsweise eine halbe Million Menschen | |
betreffen. Und zweitens: Selbst wenn es für die meisten Menschen nur noch | |
ein Schnupfen wäre – was ist mit dem Rest? | |
Und auch: Wer ist dieser Rest? Getreu dem Motto „Wer Schwierigkeiten hat, | |
dem werden Schwierigkeiten gemacht“ werden diese Opfer von ohnehin | |
marginalisierten Gruppen gefordert werden: von Menschen mit Behinderung, | |
Alten, Kranken und auch von armen Menschen, deren Risiko einer Ansteckung | |
vielfach höher liegt. Angesichts dieser Verschiebungen wird beispielsweise | |
in den USA darüber diskutiert, ob und inwiefern diese Laissez-faire-Politik | |
eine eugenische ist – eine Diskussion, die in Deutschland nicht | |
stattfindet. | |
Ein großes Versäumnis, bedenkt man, dass sich die Erkenntnis festsetzt, es | |
habe zu viele und zu umfassende Maßnahmen gegeben. Diskutiert wird, was die | |
Maßnahmen mit der einzelnen Person gemacht haben. Dabei kommt zu kurz, was | |
eine solche Katastrophe für die gesamte Gesellschaft bedeutet. Diese | |
Diskussion ist bitter nötig, denn die nächste Pandemie kommt bestimmt. Und | |
vermutlich sogar ziemlich bald. | |
4 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Aufarbeitung-der-Coronapandemie/!6001970 | |
[2] https://www.manager-magazin.de/unternehmen/homeoffice-die-beschaeftigten-si… | |
[3] https://www.zeit.de/2023/42/christian-drosten-virologe-corona-varianten-mrna | |
## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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