Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Dekan der Gaza-Uni über den Krieg: „Das wäre eine weitere Nakba…
> Israel will die Palästinenser in Gaza zur Auswanderung zwingen, sagt
> Wesam Amer, Dekan an der Gaza-Uni. Er selbst lebt mittlerweile in
> Hamburg.
Bild: Luftaufnahme einer Zeltstadt in Rafah, Süd-Gaza, 08. 12. 2023
Nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 [1][hat die taz mehrfach mit
Wesam Amer im Gazastreifen gesprochen], der von der Lage vor Ort
berichtete. Im November wurde er als deutscher Staatsbürger mit seiner
Familie evakuiert und lebt nun in Hamburg. Am zweiten Tag nach der Ankunft
brachte seine Frau Zwillinge zur Welt.
taz: Herr Amer, wie ist es, den Gazakrieg nun von Hamburg aus zu verfolgen?
Wesam Amer: Ich habe Angst um meine Familie und Freunde. Jede Minute könnte
ein Anruf kommen. Die Luftangriffe hören nicht auf. Nur wenige
Krankenhäuser sind noch intakt. Diesen Horror kenne ich, nun beobachte ich
ihn aus der Ferne.
Wie geht es Ihren Verwandten vor Ort?
Meine Brüder und Schwestern wohnen jetzt bei Freunden oder Verwandten in
Rafah. Ich sage ihnen immer, dass sie damit rechnen müssen, auf die
Sinai-Halbinsel zu gehen.
Laut Netanjahu gibt es keinen Plan, die Palästinenser nach Ägypten zu
vertreiben. Aber wäre es aus humanitärer Sicht nicht sogar die beste
Option, wenn die Menschen Schutz auf dem Sinai fänden, zumindest temporär?
Ich gehe schon davon aus, dass es der Plan ist, die Menschen zum Auswandern
zu zwingen. Aber das wäre eine weitere Nakba, wie sie schon 1948 meinen
Großeltern widerfahren ist. Sie wurden gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen,
und kehrten nie zurück.
Sie haben in Chan Yunis gelebt und an der Universität in Gaza-Stadt
gearbeitet. Wie haben Sie den 7. Oktober erlebt?
Meine Töchter und ich machten uns morgens gerade fertig, als wir das
Geräusch von Raketen hörten, die auf Israel abgefeuert wurden. Zuerst
verstanden wir nicht, was los war. Dann erfuhren wir von den Autos mit
militanten Kämpfern in den israelischen Siedlungen um Gaza. Das war
schockierend.
Stimmt es nicht, dass das gefeiert wurde?
Niemand um uns herum feierte. Der Ernst der Lage war uns bewusst. Die
Fortschritte, die wir beim Wiederaufbau unseres Lebens gemacht hatten,
waren in Gefahr. Die Fähigkeiten des Widerstands und der Hamas-Milizen
überraschten alle. Sie waren in die Siedlungen eingedrungen, hatten
Menschen entführt und Soldaten gefangen genommen.
Gab es in Ihrem Umfeld ein Bewusstsein dafür, dass sich die Angriffe gegen
Zivilisten richteten?
Ich will ehrlich sein, wenn es um Begriffe wie Zivilisten und Soldaten
geht: Beide werden in Gaza als gefährlich angesehen. Die Siedler tragen
Waffen und verletzen regelmäßig Palästinenser. Ich persönlich bin mit der
Gewalt, die wir erlebt haben, natürlich nicht einverstanden. Wenn Sie mich
fragen, ob das, was die Hamas getan hat, legitim ist, ist meine Antwort ein
klares Nein. Aber Sie müssen verstehen, dass die Menschen die Siedler
genauso fürchten wie die Soldaten.
Sie sprechen von Siedlungen und Siedlern. Dabei handelt es sich bei den
Orten um den Gazastreifen völkerrechtlich nicht um Siedlungen. Beziehen Sie
sich mit dem Begriff auf alle Dörfer und Städte in Israel?
Nein, natürlich nicht. Nur auf die Siedlungen, die den Gazastreifen
umgeben. Das ist die palästinensische Perspektive.
Aber diese Orte liegen auf israelischem Staatsgebiet, innerhalb der Grenzen
von 1967. Ist für Sie auch Tel Aviv eine Siedlung?
Die Leute, die in Tel Aviv, Jaffa oder anderen Städten leben, sind keine
Siedler. Wir haben uns vor Jahren geeinigt, eine friedliche Lösung
innerhalb dieser Grenzen anzustreben.
Was ist der Unterschied zwischen Tel Aviv und einem Kibbuz wie Kfar Aza?
Wenn wir über eine nachhaltige Lösung des Konflikts sprechen, über eine
Zweistaatenlösung entlang der Grenzen von 1967, dann braucht es ein
zusammenhängendes Territorium zwischen Gaza und dem Westjordanland. Das ist
unmöglich, wenn die Siedlungen rund um Gaza weiter bestehen.
Palästinensische Inseln mit Siedlungen dazwischen sind keine Lösung.
Wie hat der Krieg Ihre Arbeit an der Universität verändert?
Wir hatten gerade das neue Semester begonnen, dann kam alles zum
Stillstand. Die Gaza-Universität wurde teilweise zerstört. Eine andere
Universität, an der ich unterrichtete, wurde vollständig dem Erdboden
gleichgemacht. Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende ginge, wäre eine
Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht möglich. Der Wiederaufbau des
Bildungssystems wird eine gewaltige Aufgabe sein.
Haben Sie mitbekommen, dass zivile Einrichtungen von der Hamas militärisch
genutzt werden?
Israel mag etwas anderes behaupten, aber Universitäten sind
Bildungseinrichtungen. Sie werden nicht für die Lagerung oder den Einsatz
von Waffen genutzt.
Sie persönlich haben nichts dergleichen gesehen?
Nein, niemals.
Wie erklären Sie sich, dass Israel zivile Einrichtungen angreift?
Israel will die Menschen in Gaza zur Auswanderung zwingen. Dazu dienen
Angriffe auf alles, auch auf Krankenhäuser, in denen sich Personal, Babys
und ältere Menschen befinden. Israel spricht zwar von Tunneln und
Waffenlagern unter zivilen Einrichtungen, aber es gibt kaum Beweise, dass
diese Einrichtungen direkt der Hamas dienen.
Journalisten wurden schon vor Wochen in das Schifa-Krankenhaus geführt. Sie
haben die Tunnel gesehen und darüber berichtet.
Unabhängige Journalisten oder solche, die in die IDF (israelische Armee, d.
Red.) eingebettet waren?
Eingebettet in die IDF.
Diese Journalisten werden von Israel zensiert, um genau das zu vermitteln,
was die IDF wollen. Das ist Teil der Propaganda.
Natürlich sind die Journalisten-Trips nach Gaza Teil der strategischen
Pressearbeit der IDF. Aber behaupten Sie, dass die Tunnel, die [2][Reporter
der New York Times] oder [3][der Zeit] beschrieben haben, nicht existieren?
Es gibt unterirdische Verbindungen zwischen Krankenhausgebäuden, z.B.
Korridore oder Garagen. Ohne objektive Nachforschungen ist aber davon
auszugehen, dass die meisten dieser Tunnel für Patienten und Personal
waren. Nach allgemeiner Auffassung befinden sich die meisten Hamas-Tunnel
in der Nähe der Grenze zu Israel, nicht in Wohngebieten. Die IDF haben
erhebliche Ressourcen bereitgestellt, um die Medienberichterstattung zu
steuern und einzuschränken, und schrecken vor Falschdarstellungen nicht
zurück.
Sie sind Medienforscher. Wie sehen Sie die Rolle der Medien im Gazakrieg?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen westlichen Medien und arabischen,
insbesondere Al Jazeera. Al Jazeera hat Journalisten vor Ort, die Zugang zu
den Menschen haben. Die westlichen Medien konzentrieren sich auf die
israelische Perspektive und lassen oft die ganze Geschichte aus.
Infolgedessen erhalten viele Menschen kein vollständiges Bild und
unterstützen unwissentlich gewalttätige Aktionen, die sie in ihrem eigenen
Land niemals gutheißen würden.
Was meinen Sie mit der „ganzen Geschichte?
Palästinensischen Stimmen wird nur sehr wenig Platz eingeräumt. Außerdem
wird der Kontext im Allgemeinen übersehen. Als die Hamas 2006 in freien
Wahlen gewählt wurde, lehnte Israel mit Unterstützung der USA das
Wahlergebnis ab. Seit 2007 schnitten sie den Gazastreifen durch eine
Betonmauer von der Welt ab. Westliche Medien berichten über den 7. Oktober,
verlieren aber kein Wort über das elende Leben der Menschen in völliger
Abhängigkeit von der Gnade Israels und unter wiederkehrenden
Bombardierungen. Der 7. Oktober muss als Reaktion auf die Blockade
betrachtet werden. Die lang aufgestaute Wut entlud sich.
Sie können nicht abstreiten, dass es eine grauenvolle Reaktion war, ein
Angriff auf Alte, auf Babys, auf Frauen. Sie haben die Bilder der
Unschuldigen doch selbst gesehen.
Natürlich! Es war ein schrecklicher Angriff auf israelische Zivilisten.
Alle sind sich einig, dass solche Gewalt keine Lösung ist. Aber leider hat
die internationale Gemeinschaft seit Jahrzehnten ignoriert, was die
Menschen in Gaza seit vielen Jahren ertragen müssen.
Mittlerweile wird aber viel über das Leid in Gaza berichtet.
Richtig, westliche Medien betonen jetzt die humanitäre Lage. Das ist
wichtig, allerdings kann die ausschließliche Konzentration darauf auch dazu
führen, dass der gesamte Konflikt als ein humanitärer gesehen wird. Was wir
brauchen, ist aber eine politische Lösung, die den Palästinensern eine
echte Zukunft bietet.
Wie könnte die aussehen?
Es braucht einen Waffenstillstand und ernsthafte Verhandlungen mit allen
palästinensischen Fraktionen. Die Hamas wurde jahrelang von der
internationalen Gemeinschaft ignoriert. Wir können nicht leugnen, dass sie
eine der großen Fraktionen ist.
Können Sie nicht nachvollziehen, dass Israel mit einer Organisation keine
Verhandlungen führen will, die in einem einzigen Massaker mehr als 1.000
Menschen getötet hat?
Ich verurteile die Gewalt. Aber diejenigen, die solche Frage stellen,
bringen nicht die gleiche Besorgnis über die zahlreichen Verbrechen gegen
Palästinenser seit 1948 zum Ausdruck. Das ist Doppelmoral. Wenn wir uns
wirklich für eine Lösung einsetzen wollen, müssen wir die Ungerechtigkeit
auf allen Seiten anerkennen.
11 Jan 2024
## LINKS
[1] /!s=Wesam+Amer+Dekan/
[2] https://www.nytimes.com/2023/12/17/world/middleeast/hamas-tunnels-gaza-isra…
[3] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/gaza-schifa-krankenhaus-geiseln…
## AUTOREN
Jannis Hagmann
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Gaza-Krieg
Israel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Humanitäre Not in Gaza: Und nun noch der Dauerregen
Die Feuchtigkeit lässt die Not der Menschen im Gazastreifen weiter steigen.
Krankheiten drohen sich auszubreiten. Auch Hilfsgüter fehlen unverändert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.