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# taz.de -- Corona-Pandemie in Großbritannien: „Ich hätte es früher kapier…
> Ex-Premier Boris Johnson hat sich vor einem Ausschuss zur Pandemie
> entschuldigt. Die Coronaregeln ignorierte er damals selbst.
Bild: Protestierende mit Fotos verstorbener Angehöriger in London am Donnerstag
Mit Bannern und Plakaten standen sie am Mittwochmorgen vor dem Gebäude in
der Nähe des Londoner Bahnhofs Paddington. In dem tagt seit Juni der
öffentliche Untersuchungsausschuss zur staatlichen Reaktion auf die
Covid-19-Pandemie in Großbritannien. Es waren Angehörige von Verstorbenen
oder Erkrankten, auch direkt [1][Betroffene von Long Covid]. Auf einigen
Bannern stand eine Zahl: 233.225 – die Zahl der verstorbenen Menschen im
Vereinigten Königreich, auf deren Totenschein Covid-19 steht.
Rechtsanwalt Aamer Anwar, ein Vertreter schottischer Hinterbliebener,
äußert sich verärgert über Aussagen, die während der Befragung hochrangiger
Regierungsberater, Experten und Entscheidungsträger in den vergangenen
Wochen öffentlich wurden – etwa die, wonach der ehemalige Premierminister
Boris Johnson zum Höhepunkt der Pandemie flapsig gesagt habe, dann würden
sich halt die Leichen stapeln.
Am Mittwoch und am Donnerstag dieser Woche ist nun Boris Johnson selbst
befragt worden. Gesehen haben ihn die meisten nicht: Johnson schlich sich
bereits um sieben Uhr morgens hinein.
Den Untersuchungsausschuss hatte Boris Johnson selbst 2022 ins Leben
gerufen, als er noch im Amt war. In diesem Sommer wurde er schon einmal
befragt. Dabei ging es allgemein um die Vorbereitung des britischen
Gesundheitssystems auf Ernstfälle wie eine Pandemie.
## Entschuldigung für „Schmerz, Verlust und Leid“
Diesmal aber ist es sehr konkret, denn die Politikerbefragung der
vergangenen Wochen hat die dramatischen ersten Monate der Pandemie zurück
ins Gedächtnis gerufen – [2][als Großbritannien später reagierte als andere
Länder], dann aber härtere Lockdowns verhängte und Johnson selbst todkrank
auf der Intensivstation landete, bevor er nach seiner Genesung die
Coronaregeln an seinem Amtssitz immer wieder ignorierte.
So sagte Johnsons ehemalige stellvertretende Stabschefin, Helen MacNamara,
die später wegen des „Partygates“ als eine der Ersten gehen musste, es habe
keinen Tag gegeben, an dem in 10 Downing Street die Covid-19-Regeln
eingehalten worden wären. Johnsons ehemaliger wissenschaftlicher
Chefberater, Patrick Vallance, behauptete, Grafiken hätten den
Premierminister verwirrt. Ex-Gesundheitsminister Matt Hancock sprach von
einer „vergifteten“ Arbeitskultur. Immer wieder fiel die Behauptung, dass
Johnson wohl Probleme mit dem Lockdown hatte.
Als die Sitzung am Mittwoch kurz nach 10 Uhr begann, eröffnete Richterin
Heather Hallett sie mit einem Warnschuss. Teile schriftlich eingereichter
Zeugenaussagen, die eigentlich vertraulich sind, seien an die Presse
gelangt und publiziert worden. Dies untergrabe die Arbeit des Ausschusses.
Sie nannte keine Namen, aber britische Medien hatten vorab Johnsons
Verteidigungspunkte dargelegt.
Nach seiner Vereidigung entschuldigte sich Boris Johnson bei den Opfern der
Pandemie für deren „Schmerz, Verlust und Leid“. Er habe die „komplette
Katastrophe“ unterschätzt. Da rumorte es unter den Zuschauern so sehr, dass
Richterin Hallett vier Personen aus dem Saal weisen ließ.
## Bilder aus Bergamo
Eine davon war Kathryn Butcher, deren Schwester im März 2020 an Covid-19
starb. „Die Toten wollen seine Entschuldigung nicht hören“, behauptete sie
gegenüber Journalisten vor dem Gebäude.
Darauf folgten Fragen, weshalb Johnsons Whatsapp Nachrichten aus dem
Zeitraum von Januar 2020 und Juni 2020 fehlten. Johnson konnte das nicht
beantworten. Laut Expert:innen, die ebenso vom Ausschuss befragt wurden,
wurde auf Johnsons Telefon im Juni 2020 ein Reset durchgeführt, als
herauskam, dass er seine seit Jahren öffentlich bekannte Mobilnummer als
Premierminister weiterbenutzt hatte, entgegen allen Sicherheitsregeln.
In den Sachfragen hatte sich Johnson eine Verteidigungsstrategie
zurechtgelegt. Für alles, was in der Pandemie entschieden wurde, sei er
persönlich verantwortlich, betonte er. Immer wieder ging es darum, wann
Johnson klar wurde, dass es ernst war mit dem Coronavirus – Großbritannien
verhängte einen Lockdown erst am 23. März 2020, also später als Deutschland
und Frankreich.
Man habe zu Lebzeiten so etwas nie erlebt, erwiderte Boris Johnson.
Wirkliche Sorgen habe er sich erst gemacht, als er die Bilder aus Italien
gesehen habe – das war um den 17. März, als [3][in der Stadt Bergamo] die
Armee Leichenberge auf Lastwagen abtransportieren musste.
## Wortwahl sei Ausdruck des Drucks
„Ich hätte es früher kapieren müssen“, gestand er. Außerdem habe man ih…
Anfang ständig davor gewarnt, dass Menschen eines Lockdowns schnell
überdrüssig würden und dieses Instrument nicht voreilig angewendet werden
sollte.
Grafische Darstellungen der möglichen Infektionsraten, die er am 12. März
erhielt, und Prognosen, dass das britische Gesundheitssystem bald unter
massivem Druck stehen könnte, hätten ihn zunächst verwirrt und einen Tag
später zu dem Beschluss von Maßnahmen geführt, sagte Johnson. Als
schließlich klar wurde, wie weit fortgeschritten die Verbreitung von
Covid-19 war und dass die Testkapazitäten nicht ausreichten, habe er keine
andere Wahl gehabt als einen Lockdown, um die Arbeitsfähigkeit des
Gesundheitswesens zu retten.
Behauptungen, etwa von seinem ehemaligen Kommunikationschef Lee Cain, er
habe sich nicht entscheiden können, oder er habe Probleme damit gehabt,
einen Lockdown auszurufen, „nur um alte Menschen zu schützen, die ein gutes
Leben hatten und eh bald sterben“, wies er zurück.
Es sei ihm im März 2020 vollkommen klar gewesen, dass ein Lockdown verhängt
werden musste. Mit seinen Bemerkungen habe er gegenüber seinem Team die
möglichen Konsequenzen lediglich gedanklich durchgespielt. Die Wortwahl in
manchen Nachrichten – es sind durch andere Zeugen einige drastische
Whatsapp-Dialoge ans Licht gekommen – sei auch ein Ausdruck des Drucks und
der Frustration gewesen: Hätte Margaret Thatcher Whatsapp gehabt, hätte es
da wohl auch sehr lebendige Kommentare gegeben.
## Johnson folgte Beratern nicht
Die Befragung ergab immerhin, dass Johnson die kurzen Zusammenfassungen
seines wissenschaftlichen Beratungsstabs kaum persönlich las, sondern fast
nur vom Wort seiner persönlichen Berater abhängig war. Johnson gestand
außerdem ein, es habe zu wenig weibliche Stimmen gegeben – das wurde ihm
vorgehalten, weil die Regierung die Folgen von Lockdowns für Frauen und
Kinder nicht sofort wahrnahm.
Am Donnerstag, dem zweiten Tag der Anhörung, wurde klar, dass der ehemalige
Premier das „Eat out to help out“-Programm im Sommer 2020, das Brit:innen
ermunterte, gastronomische Angebote wahrzunehmen, nicht mit seinen
wissenschaftlichen und medizinischen Chefberatern diskutiert hatte, wie er
in einer Eingabe geschrieben hatte. Johnson folgte den beiden nicht immer,
wie sich herausstellte.
Als ein Anwalt für Menschen, die Angehörige verloren haben, Johnson noch
mal mit Statistiken konfrontierte und ihm darlegte, dass die britische
Sterberate mit vergleichbaren Ländern eine der höchsten war, widersprach
Johnson mit dem Argument, dass die Bedingungen im Vereinigten Königreich
nicht etwa mit denen in Südkorea vergleichbar seien.
Nächste Woche soll der amtierende Premierminister Rishi Sunak vor dem
Ausschuss erscheinen, der zur Zeit der Pandemie Finanzminister war und
damit auch zuständig für die wirtschaftlichen Aspekte der
Pandemiebekämpfung. Die Untersuchung insgesamt wird noch mehrere Jahre
dauern – länger als die Pandemie selbst.
7 Dec 2023
## LINKS
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[3] /Bergamo-ein-Jahr-danach/!5749885
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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