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# taz.de -- Jahrestag des Massakers von Sivas: Die Täter leben unter uns
> Am Sonntag erinnern Alevit*innen an die Menschen, die 1993 im
> anatolischen Sivas von einem Mob verbrannt wurden.
Bild: Der Kampf um mehr Sichtbarkeit: hier bei einer Kundgebung im Jahr 2020
„Wenn ich jemanden aus Sivas kennenlerne, frage ich zuerst: ‚Bist du einer
von den Brandstiftern oder einer der Verbrannten?‘“, erklärt Halit
Büyükgöl. „Damit versucht man herauszufinden, ob jemand Alevit oder Sunnit
ist.“ Büyükgöl ist Mitglied im Ehrenrat der Alevitischen Gemeinde in
Kreuzberg. Anfang der 1980er Jahre kam er als Jugendlicher nach Berlin.
Hier organisiert er seit 30 Jahren an jedem 2. Juli die Gedenkdemonstration
für die Opfer des Brandanschlags in der anatolischen Stadt.
„Ich erinnere mich, wie wir 1993 erfuhren, dass im Madımak-Hotel Feuer
gelegt und die Menschen ermordet wurden“, erzählt Büyükgöl mit fester
Stimme. „Wir saßen im Alevitischen Verein, damals noch im Wedding. Alles
wurde live im Fernsehen übertragen, über acht Stunden lang.“ Er schildert,
wie der kleine Versammlungsraum irgendwann nicht mehr ausreichte, weil
immer neue Menschen hineinströmten, um Informationen zu erhalten. „Damals
hatten wir noch kein Internet. Wir starrten gebannt auf den Fernseher, um
zu erfahren, was passierte.“
Nach einer Weile wichen sie auf den großen Hochzeitssaal unter ihrem
Treffpunkt aus. „Auf dem Bildschirm sahen wir, wie unsere Idole
verbrannten. Einige waren direkte Angehörige unserer Freund*innen hier in
Berlin.“ Am Wochenende darauf gab es die erste Demonstration am Kottbusser
Tor, sie findet seitdem jährlich in verschiedenen deutschen Städten statt.
Als das Madımak-Hotel in Sivas am 2. Juli 1993 von einem islamistischen Mob
in Brand gesteckt wurde, starben 33 Menschen, die sich dort für ein
alevitisches Kulturfestival zu Ehren des Dichters Pir Sultan Abdal
versammelt hatten. Die Alevit*innen leben seit Jahrhunderten in der
Türkei, ihre Religion ist dort bis heute nicht offiziell anerkannt. In den
1990ern gewann der politische Islam in der Türkei Aufwind. Weder Polizei
noch Militär schritten in Sivas ein. Zu den Opfern gehörten die
bedeutendsten alevitischen Dichter, Musiker und Schriftsteller der Türkei.
Rund 70.000 Alevit*innen leben aktuell in Berlin – europaweit die größte
Gemeinde. Betritt man ihren Raum in Kreuzberg, sieht man bereits am Eingang
die Fotos der Brandopfer von Sivas. „Dieses Ereignis hat eine zentrale
Bedeutung für uns und unsere Identität“, sagt Vorstandsmitglied Melinda
Özgül. Die Studentin ist Mitte 20, sie war damals noch nicht geboren. Sivas
sei ein transgenerational vererbtes Trauma, sagt sie: „Wenn ich meinen
Vater erzählen höre, wie seine Vorbilder verbrannt wurden, traumatisiert es
auch mich. Er spielt selbst die Bağlama [die türkische Langhalslaute], er
hat zu diesen Menschen aufgeschaut.“
Seit dem Anschlag habe die Selbstorganisierung der Alevit*innen noch
einmal an Bedeutung gewonnen, sagt Özgül. „Wir wollen aber nicht in der
Opferrolle bleiben, wir stellen auch Forderungen.“ Eine davon: Der Ort des
Brandanschlags soll in ein Museum umgewandelt werden. Utanç Müzesi, das
„Museum der Schande“. Bisher weigert sich die türkische Regierung.
## „In unsere Köpfe eingebrannt“
„Wir sind mit diesen Bildern aufgewachsen, sie haben sich in unsere Köpfe
eingebrannt“, erinnert sich der Linken-Abgeordnete Ferat Koçak, dessen
kurdische Familie aus Sivas stammt. „Der Anschlag auf das Madımak-Hotel
fiel in die gleiche Zeit wie die rassistischen Angriffe in Mölln, Solingen
und Rostock-Lichtenhagen. Ich habe mich damals gefragt: Wenn es Rassismus
und Faschismus sowohl hier als auch in der Türkei gibt, wo gehöre ich dann
hin, wo bin ich willkommen?“
Er habe sich entschieden, Berliner zu sein und internationalistisch gegen
Rassismus zu kämpfen. „Wir werden dort massakriert, wir werden hier
ermordet. Als kurdische Aleviten, die in Deutschland aufgewachsen sind,
haben wir nicht den Luxus, ruhig zu sein.“ Dass es in Berlin an diesem
Sonntag wieder eine Demonstration gibt, findet Kocak sehr wichtig: „Die
Ideologie des Sivas-Massakers ist in der Türkei Staatsräson geworden.“ Dass
aktuell viele Menschen von dort fliehen wollen, müsse ein Signal für die
deutsche Politik werden, die Türkei nicht mehr als sicheres Herkunftsland
zu betrachten. „Gedenktage, an denen wir an Sivas erinnern, sind auch
wichtig, um auf die aktuelle politische Lage in der Türkei aufmerksam zu
machen“, sagt Koçak.
Dass die zentrale Demonstration zum 30. Jahrestag in Berlin stattfindet,
hat einen besonderen Grund: Der gewalttätige Mob in Sivas umfasste rund
15.000 Personen, von denen rund 100 zu Haftstrafen verurteilt wurden.
Einige der Täter konnten sich allerdings rechtzeitig ins Ausland absetzen,
neun von ihnen nach Deutschland. 2019 hatten die damaligen
Grünen-Abgeordneten Benedikt Lux und Fatoş Topaç im Namen einer Angehörigen
Anzeige erstattet, doch bisher kam es zu keinem Urteil. Die
Generalbundesstaatsanwaltschaft teilte auf Anfrage mit, sie sei für das
Verfahren nicht zuständig und habe es an die Berliner Staatsanwaltschaft
weitergeleitet.
Von dort erhielt die taz bis Redaktionsschluss keine Auskunft über den
Stand des Verfahrens. Topaç ist von der Berliner Justiz enttäuscht. „Ich
kann es absolut nicht verstehen und bedaure es zutiefst. Neben den vielen
bekannten Dimensionen dieses Verbrechens ist es doch gerade für in Berlin
lebende Angehörige der Opfer unerträglich, dass nicht gehandelt wird“, sagt
sie.
Da das Völkerstrafgesetzbuch zum Tatzeitpunkt noch nicht in der heutigen
Form galt, ist eine Einstellung des Verfahrens zu vermuten. Lux, der
mittlerweile wieder als Anwalt tätig ist, sieht die Chancen für eine
Verurteilung der Täter dennoch als offen an. „Gäbe es neue Beweise, könnte
man das Verfahren wieder aufnehmen“, sagt er.
Laut Büyükgöl wäre das kein Problem. „Ich kann alles beweisen!“, sagt er
aufgebracht und fügt hinzu, „beziehungsweise unsere Anwälte in der Türkei.…
Alles sei sehr detailliert dokumentiert, wozu auch die Fernsehübertragung
am Tag des Anschlags beigetragen habe. Büyükgöl ist sich sicher, dass die
Täter gut zu identifizieren wären – wenn man denn wollte. Ihm ist es ein
wichtiges Anliegen, dass die in Deutschland lebenden Angreifer auch hier
vor Gericht gestellt werden. „Es ist sogar eine internationale
Angelegenheit, weil dort Menschenrechte verletzt wurden. Es wurden Menschen
verbrannt“, ergänzt Özgül.
Warum handelt die deutsche Justiz so zögerlich? „Ich glaube, dass die
deutsche Regierung ganz genau weiß, wo die Gefahren liegen, und aus
politischem Interesse den Schritt nicht geht“, ist sich Özgül sicher. „Das
Verfahren gegen die Täter ist ja nur ein Problem, das wir als
Alevit*innen ansprechen. Was ist mit den faschistischen Vereinen, die
aus der Türkei gesteuert werden? Wie können deren Strukturen hier Fuß
fassen?“
Konkrete Angst vor den Tätern habe man zwar nicht, sagen Özgül und
Büyükgöl. „Aber die Ideologie wird hier geduldet. Das ist ein großes
Problem.“ Özgül erinnert daran, dass erst kürzlich eine alevitische
Gemeinde im nordrhein-westfälischen Düren angegriffen wurde. Sie wünscht
sich von der Politik und der Mehrheitsgesellschaft mehr Unterstützung.
„Echte Solidarität, keine Doppelmoral! Wir sind Teil der deutschen
Gesellschaft und wollen als solcher auch geschützt werden.“
Gerechtigkeit sei ein zentraler Wert der Alevit*innen, sie stellten sich in
ihrer Geschichte immer auf die Seite der Unterdrückten und bezahlten dafür
auch mit ihrem Leben, sagt Özgül. „Von unserer Seite geht keine Gewalt aus,
das gehört nicht zu unserer Kultur und unserem Glauben“, ergänzt Büyükgö…
„Mit unserer Demonstration wollen wir niemanden stören und auch keine Angst
machen. Wir möchten die Erinnerung an Sivas bewahren, damit es nicht
vergessen wird.“
Viele der Plakate seien auf Deutsch verfasst, um den Berliner*innen ihr
Anliegen verständlich zu machen. Die Jugendlichen aus der Gemeinde würden
am Rande der Demonstration Flugblätter verteilen, um Passant*innen über
die Alevit*innen und das Sivas-Massaker zu informieren. Büyükgöl hat
viel Verständnis dafür, dass immer noch viele Deutsche nicht genau wissen,
wer die Alevit*innen eigentlich sind. „In den 90ern waren wir viel mit
uns selbst beschäftigt. Wir haben es nicht geschafft, uns der deutschen
Gesellschaft richtig vorzustellen“, sagt er. „Aber mit unserem Verein haben
wir jetzt bessere Möglichkeiten.“
## Nur nicht dem Ansehen der Stadt schaden
„Sivas ist kalt“, sagt Büyükgöl plötzlich. Er meint nicht das Wetter,
sondern die Atmosphäre. Vor einigen Jahren reiste er zur Gedenkfeier
dorthin. „Ich stand vor dem Madımak-Hotel, und vor meinen Augen tauchten
die Bilder auf, die wir im Fernsehen gesehen hatten. Ich sah die Gesichter
von Hasret Gültekin, Metin Altıok und all den anderen.“ Währenddessen habe
man ihn aus den umliegenden Gebäuden beobachtet. Viele Bewohner von Sivas
sind wütend auf die jährlich anreisenden Alevit*innen – die schadeten
dem Ansehen der Stadt, meinen sie.
Ähnliche Eindrücke schildern diejenigen, die in diesem Jahr an den
Brandanschlag auf die Familie Genç in Solingen erinnerten. Nicht dem
Ansehen der Stadt schaden – vielen ist das wichtiger als die Aufarbeitung
eines menschenverachtenden, rassistischen Verbrechens. Gerade deshalb
besteht die alevitische Gemeinde darauf, ihr Gedenken und ihre Forderung
nach Gerechtigkeit in die Öffentlichkeit zu tragen.
Der Gedenkmarsch führt am Sonntag, 2. Juli, ab 12 Uhr vom Hermannplatz zum
Oranienplatz.
30 Jun 2023
## AUTOREN
Svenja Huck
## TAGS
Türkei
Aleviten
Gedenken
Türkei
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