# taz.de -- Queeres Leben in Beirut: Adieu, Habibi! | |
> Der junge schwule Fernsehregisseur Eli war stolz auf sein Beirut, in dem | |
> Menschen gleich welcher Religion oder sexuellen Orientierung zusammen | |
> feierten – doch seine Generation konnte sich nicht durchsetzen. | |
Dieser Text erschien am 29. Juli 2006 | |
Heute Nacht hat die israelische Luftwaffe den Flughafen Beiruts | |
bombardiert, vorerst nur die Rollbahnen. Hoffentlich ist Eli nichts | |
passiert. | |
Message von Eli, 13. Juli 2006, 10.30 Uhr: „Mir und meiner Familie ist | |
nichts passiert, es geht uns so weit gut. Die israelische Luftwaffe soll | |
ihren Job erledigen, sonst wird die Hisbollah danach noch viel stärker sein | |
als vorher.“ | |
Beirut, die einzige Stadt der arabischen Welt, die über eine vitale | |
schwul-lesbische Szene verfügt – eine Unterabteilung des „Freudenhauses des | |
Nahen Ostens“, in dem gespielt, gehurt, gesoffen, gefeiert wird, als gäbe | |
es kein Morgen. | |
Die jungen Menschen hatten ja Recht: Es scheint kein Morgen zu geben, der | |
Traum ist ausgeträumt, stattdessen schlagen Raketen ein, zerstörte Gebäude, | |
zerstörte Menschen, zerstörte Hoffnungen. Ausgerechnet diese Stadt wird | |
gerade in Schutt und Asche gebombt, ausgerechnet die Stadt, in der die | |
arabisch-muslimische Welt Freiheit, Liberalität, „westlichen“ Lebensstil | |
ausprobieren konnte, „Test the West“. | |
Beirut im November letzten Jahres; immer noch ausreichend warm, dass man | |
nur im Hemd herumlaufen kann, auch nachts. Ein erster Kontakt zu den | |
Einheimischen war schon vor der Abreise im kalten Deutschland hergestellt, | |
über „Gayromeo“, eines der internationalen Chatforen, mit deren Hilfe | |
Schwule weltweit Kontakt miteinander aufnehmen; es gibt sie überall auf der | |
Welt, und es verbindet sie etwas, was über nationale Grenzen, Ethnien und | |
Religion hinausgeht. Die Schwulen und Lesben sind wie ein Sprühnebel: Fällt | |
die Sonne darauf, leuchten alle Farben des Regenbogens – scheint sie nicht, | |
ist nichts zu sehen. Wenn man wissen will, wie es um ein Land bestellt ist, | |
muss man sich nur die Gefängnisse und die Homoszene anschauen. | |
Man findet zueinander, und sei es am Place des Martyres in Downtown Beirut. | |
Verabredeter Treffpunkt mit Eli: der Virgin Record Store, gleich neben dem | |
in einem Meer aus Blumen ertrinkenden Schrein für den 2005 ermordeten | |
ehemaligen Staatspräsidenten Hariri, der unter anderem für den Wiederaufbau | |
des im Bürgerkrieg pulverisierten Stadtzentrums verantwortlich zeichnete. | |
Hariri war ein Symbol für die Loslösung von der Besatzungsmacht Syrien – es | |
hat ihn das Leben gekostet, nicht weit von hier in der Nähe des Hafens | |
wurde er Opfer einer Autobombe, deren Wucht gleich ein halbes Haus in | |
Schutt und Asche legte. Hier auf der Place des Martyres hatte die Jugend | |
Beiruts wochenlang campiert und demonstriert: für die Unabhängigkeit des | |
Landes, für Freiheit und Demokratie. Man durchlebte den „Beiruter Frühling�… | |
die „Zedernrevolution“, manche sagen kritisch: die „Gucci-Revolution“. … | |
war einer dieser jungen Menschen – jung, gut aussehend und vor allem daran | |
interessiert, ein gutes Leben zu führen, Wohlstand, Sicherheit, Freiheit. | |
Message von Eli, 15. Juli 2006, 21.14 Uhr: „In den letzten fünfzehn Jahren | |
und unter syrischer Okkupation haben wir versucht, unsere Städte und unsere | |
Leben wiederherzustellen, nachdem wir den Preis für jeden einzelnen | |
arabisch-israelischen Konflikt bezahlt haben. Jetzt sind wir allein, sehen | |
zu, wie israelische Kampfflugzeuge und Hisbollah-Kämpfer ein theatralisches | |
Chaos veranstalten, das jede Minute unschuldige Leben kostet.“ | |
Auch Eli trägt zu kunstvoll rasiertem Bart edle Designerkleidung, geht | |
voran zur „Dunkin' Donuts“-Filiale, einem der Treffpunkte der Beiruter | |
Schwulen und Lesben, denn hier riecht es nicht nur nach Gebäck und Coffee | |
to go, sondern vor allem nach Westen und Freiheit. Eli ist müde, er sieht | |
gerade viel älter aus als 28. Er hat einen anstrengenden Job beim | |
Fernsehen, arbeitet als Regisseur von Unterhaltungssendungen – und hat die | |
letzte Nacht mal wieder durchgemacht, er war im Vogue, dort, wo es die | |
einzige offizielle Drag Show der arabischen Welt zu sehen gibt. Im | |
Stadtzentrum stehen Moscheen und christliche Kirchen dicht an dicht, mal | |
läuten die Glocken, mal ruft ein Muezzin. Ob die Religionen nicht eine | |
Bedrohung für die Schwulen und Lesben im Libanon seien? „Wir sind eine | |
Bedrohung für sie!“, kontert Eli. Wohl wissend, dass die Verhältnisse in | |
Wirklichkeit anders sind. Er hat versprochen, dem Besucher das | |
sagenumwobene Nachtleben Beiruts zu zeigen. Man merkt, er ist stolz auf | |
seine Stadt. | |
Eli ist griechisch-orthodox, er wohnt in einer christlichen Wohngegend am | |
Rande Beiruts, oben in den Bergen: zusammen mit zwei Katzen und seinen | |
Eltern. In Beirut ist es nicht üblich, mit Anfang 20 auszuziehen und eine | |
eigene Wohnung zu haben. „Es ist schwer, eine Linie zwischen sich und der | |
Familie zu ziehen“, erzählt Eli, der immerhin auf die 30 zugeht und einen | |
ziemlich angesehenen Job hat. Seine Eltern wissen zwar, dass er schwul ist, | |
möchten aber nicht, dass darüber gesprochen wird. Das ist schon viel, | |
ansonsten wäre Eli jetzt langsam in dem Alter, in dem er sich nach einer | |
Frau umschauen müsste, wenn er sich keinen Verdächtigungen aussetzen will. | |
„Ach, mein Vater. Damals in den 70er-Jahren fand er es völlig in Ordnung, | |
wenn jemand schwul ist, weil es eben der Zeitgeist war. Dann kam der Krieg, | |
und jetzt weht eben ein traditionell-muslimischer Wind, und schon findet er | |
es nicht mehr in Ordnung.“ Eli erzählt, dass immer mehr gut ausgebildete | |
Christen das Land verlassen, während die Muslime unter Anleitung ihrer | |
geistigen Führer immer mehr Kinder zeugen: Die islamische Gebärfront droht | |
das Gleichgewicht der Religionen im Lande zu kippen. Auch Eli träumt davon, | |
nach Dubai zu ziehen, dort könnte er eine eigene Wohnung haben. Endlich ein | |
eigenes Leben. Ein sehr weiter Weg des geringsten Widerstands, lieber in | |
ein anderes Land, als im eigenen zu rebellieren. Du sollst Vater und Mutter | |
gehorchen – ist man weit genug weg, kann man sie einfach nicht mehr hören. | |
Er fragt, wie es in Berlin ist, seine Großmutter war Jüdin, während des | |
Nationalsozialismus musste sie aus Deutschland emigrieren. „Israel? Es gibt | |
viele Menschen im Libanon, die Geschäfte mit den Israelis machen, man redet | |
nur nicht darüber“, sagt er. Eli würde gern einmal nach Jerusalem gehen, | |
übers Internet hat er schon einige nette schwule Israelis kennen gelernt. | |
Man kann nicht zueinander kommen, erst heute morgen hat die israelische | |
Luftwaffe Flugblätter über den südlichen Vierteln Beiruts abgeworfen, in | |
denen dazu aufgerufen wird, der Hisbollah das Handwerk zu legen – eine | |
seltsam anmutende Form der Kommunikation auf dem vorläufigen Höhepunkt des | |
Kommunikationszeitalters – in den Tagen zuvor hatte es erneut bewaffnete | |
Auseinandersetzungen zwischen der radikalschiitischen Miliz und der | |
israelischen Armee gegeben, an der Grenze gibt es immer wieder Ärger, doch | |
der scheint von der glitzernden Downtown aus betrachtet sehr weit weg – | |
ähnlich weit weg wie die südlichen Viertel Beiruts, in denen die | |
palästinensischen Flüchtlinge leben und die Hisbollah Hausrecht hat – | |
unvorstellbar weit: Hier läuft die Jeunesse dorée Beiruts auf dem Catwalk, | |
zeigt (gern auch schönheitsoperiertes) Gesicht zu erlesener Kleidung. Man | |
speist international, trinkt italienischen Kaffee und raucht dennoch | |
zusammen eine Wasserpfeife nach altem orientalischem Brauch, überall riecht | |
es nach dem süßlich-fruchtigen Tabakdampf, eine Metropole tatsächlich | |
zwischen Orient und Okzident, deren Wille zu unbedingter Schönheit von | |
einem neuen Überlebenswillen nach den langen, zermürbenden Jahren des | |
Bürgerkriegs zeugt; man möchte dort anknüpfen, wo man längst war, damals, | |
als Beirut als das Paris des Nahen Ostens galt – die gebildete Schicht | |
spricht hier noch immer gerne Französisch, einige träumen davon, wie es | |
wäre, wenn der Libanon noch immer unter französischer Protektion stünde, | |
doch das sagt man lieber nicht laut. | |
Ein monströser amerikanischer Geländewagen hält an der Ecke, wir werden | |
abgeholt von Nada, einer kleinen muslimischen Lesbe, die hinter dem Steuer | |
des Wagens zu verschwinden scheint. Nada arbeitet auch beim Fernsehen, im | |
Gegensatz zu Eli ist sie schon längst in Dubai, die Zeit, in der sie für | |
den Erhalt von Baudenkmälern in der Beiruter Altstadt demonstriert hat, | |
liegt weit zurück. Wir fahren ins Spielkasino von Beirut, vorbei an | |
diversen Kontrollposten des libanesischen Militärs, vorbei an Plakaten, die | |
eine syrienkritische Fernsehjournalistin zeigen, die kürzlich bei einem | |
Attentat schwer verletzt wurde, vorbei an öffentlichen Gebäuden, vor denen | |
man nicht parken darf, weil Autos hier durchaus manchmal explodieren – es | |
ist ein fragiles Land, das um Frieden, Ruhe, Ordnung und Wohlstand ringt, | |
doch heute Nacht soll das alles vergessen werden. | |
Das Spielkasino liegt am Rande Beiruts, dort, wo die reichen Araber aus den | |
Golfstaaten sich riesige Villen gebaut haben, damit sie es während der | |
Feriensaison nicht so weit zum Roulettetisch haben, dort, wo in den | |
Nebenstraßen ein Bordell neben dem anderen steht, Nachtclub an Nachtclub – | |
hier lässt man mal so richtig die Sau raus, zu Hause herrscht dann wieder | |
religiöse Sittenstrenge. Im legendären Spielkasino von Beirut stehen sie an | |
den slot machines, Männer in billigen Anzügen und kaputten Schuhen, mit | |
Schmuck behangene Beiruter Ladys und traditionell gewandete Araber. Sie | |
lachen anerkennend, wenn die Maschine Münzen ausspuckt – hier beten alle | |
den gleichen Gott an: Mammon. | |
Message von Eli, 16. Juli 2006, 8.15 Uhr: „Ich weiß nur nicht, wie es mit | |
meinem Job weitergeht: Alle schauen nur noch Nachrichten, natürlich will | |
niemand Unterhaltungssendungen sehen, sie sind vorläufig abgesetzt. Nein, | |
ich werde heute Abend ganz bestimmt nicht ins Acid gehen, ich bleibe zu | |
Hause bei meinen Eltern.“ | |
Mit geöffneten Fenstern rast der Wagen durch die warme Beiruter Nacht in | |
Richtung Acid. Es ist einer der angesagtesten schwul-lesbischen Clubs in | |
Beirut, Eli hat seine Lieblings-Mix-CD eingelegt: arabische | |
Dancefloormusik, danach läuft „People Have the Power“ von Patti Smith. „… | |
liebe dieses Lied“, brüllt Eli, „das haben wir bei den Demos immer gehört… | |
Der Kontrollposten winkt uns durch, nun läuft „Neverending Story“ von | |
Limahl. „Als ich ein Kind war, habe ich immer hinter dem Haus meiner Eltern | |
im Wald gespielt, doch dann hat das Militär dort ein Lager errichtet. | |
Während des Krieges durfte ich nicht mehr draußen spielen, also habe ich | |
ständig ‚Die unendliche Geschichte‘ auf Video angeschaut, ich hatte nur die | |
eine Kassette.“ | |
Das Acid liegt etwas außerhalb, in einer Art Industriegebiet, unauffällig. | |
20 Dollar Eintritt, alle Drinks inklusive. „Denk dran, Habibi: keine zu | |
eindeutigen Berührungen, keine tiefen Küsse, die Security schmeißt dich | |
sonst raus.“ Habibi, das bedeutet: mein lieber, guter Freund. Im Acid sind | |
fast alle Besucher schwul oder lesbisch, aber offiziell ist das hier kein | |
Gay Club; kein Regenbogenaufkleber, nicht mal die Toilettentüren kann man | |
verriegeln – eine durchdachte Vorsichtsmaßnahme. Erst vor zwei Wochen wurde | |
das Acid geschlossen, zwei Männer wurden über Nacht inhaftiert – es lag | |
aber nur daran, dass etwas mit dem Schmiergeldverkehr nicht gestimmt hatte. | |
Homosexualität ist im Libanon strafbar, der Paragraf wird aber kaum | |
angewendet. Solange niemand allzu viel Aufhebens macht oder gar einen | |
Christopher Street Day organisieren möchte, sagt niemand etwas – dennoch | |
sollen Filme wie „Brokeback Mountain“ in libanesischen Kinos nicht gezeigt | |
werden, um die religiösen Sittenwächter nicht zu verärgern. | |
Statt einer eigenen Parade organisierte die libanesische Gay Rights | |
Organisation „Helem“ (Hoffnung) im letzten Jahr wenigstens eine Teilnahme | |
am Beiruter Marathon. Helem gewann sogar einen Preis: für den besten | |
Erfrischungsstand. Nur auf den internationalen CSDs, etwa in Montreal oder | |
San Francisco, können Libanons Homosexuelle Flagge zeigen, laufen sie in | |
der traditionellen Landeskleidung mit. Im Land selbst traut sich keiner | |
aufzufallen, alle leben heimlich, still und leise – wie die zahllosen | |
Männer, die nachts an der Beiruter Corniche Autocruising machen, immer in | |
Gefahr, von der Polizei kontrolliert oder von einem der zahlreichen | |
Stricher erpresst oder ausgeraubt zu werden – junge Männer, die sich und | |
zum Teil ihre Familie ernähren. Sich zu prostituieren ist unter der | |
Prämisse, „aktiv“ zu sein, nicht ehrenrührig, ein bekennender, | |
selbstbewusster Homosexueller zu sein durchaus. | |
Heimlich, still und leise? Im Acid herrscht ein Getriebe, das | |
internationale Standards spielend übertrifft; Beirut gilt als Kaderschmiede | |
der internationalen DJ-Szene, der Puls der Zeit dröhnt in den Ohren bei | |
Wodka Red Bull. | |
Message von Eli, 17. Juli 2006, 16.30 Uhr: „Die Libanesen fühlen sich | |
einmal mehr betrogen von der internationalen Gemeinschaft. Ich sehe, wie | |
mein Land zerstört wird und die Welt still zusieht.“ | |
Harte Drinks werden zwischen den Beinen der auf dem Tresen tanzenden Lesben | |
hindurchgereicht, in Beirut feiert man zusammen, das einzige Problem: Wie | |
soll man es in diesem Gedränge schaffen, einander nicht zu berühren? Die | |
Tanzfläche quillt über, nur eine Lady verfügt aufgrund ihrer Prominenz über | |
eine Art Sicherheitsabstand: Beiruts bekannteste Transsexuelle, zu Gast in | |
allen Talkshows, schüttet gelangweilt Cocktails in sich hinein. Eli | |
demonstriert, wie man zu arabischem Habibi-Pop tanzt, hoch mit den Hüften! | |
Es sieht gar nicht tuntig aus, die libanesischen Schwulen geben sich | |
mehrheitlich sehr männlich, straight acting, nicht unbedingt ein Zeichen | |
von Selbstverleugnung, eher ein Zeichen von Selbstbewusstsein: Man lässt | |
sich nicht einreden, dass man kein Mann mehr sei, wenn man Männer liebt. | |
„Life Is Too Short“ von Kai Tracid wummert los, ein Motto, das sich hier | |
alle auf die Fahne geschrieben haben. In diesem Club sind alle Religionen | |
und Ethnien des Libanons versammelt, Armenier, Schiiten, orthodoxe | |
Christen, Muslime – völlig egal, nur schön muss er sein, oder sie. | |
Message von Eli, 20. Juli 06, 20.23 Uhr: „Die Medien sind nicht gerade eine | |
Hilfe, die meisten Reportagen aus Beirut sind nicht fair, sie interviewen | |
nur Leute, die für die Hisbollah sind, und lassen die Tatsache außer Acht, | |
dass die Hisbollah nur bei 60 Prozent der libanesischen Schiiten populär | |
ist, nur diese wollen am liebsten einen eigenen schiitischen Staat | |
innerhalb des Libanon gründen – sie haben es ja schon getan. Die Schiiten | |
bilden nur 25 Prozent der libanesischen Bevölkerung, nicht alle von ihnen | |
unterstützen Nasrallah, viele meiner schiitischen Freunde sind gegen ihn.“ | |
Es geht weiter in Richtung Achrafieh – im Acid tanzen sie längst | |
knöcheltief in Scherben – Rue Monot, Stau nachts um vier, knallneue | |
Porsches reihen sich hinter qualmenden Uralt-Mercedes-Taxis ein; schwer, um | |
diese Zeit – mitten in der Nacht – einen Platz in einem der Restaurants zu | |
bekommen, überall sitzen verliebte Pärchen, Gruppen junger Frauen in | |
sagenhaftem Putz. Bei köstlichen libanesischen Vorspeisen, Mezze, wird | |
weiterdiskutiert: „Siehst du denn nicht, dass Deutschland sich vor den | |
Karren Israels spannen lässt?“, fragt Eli erbost, Nada ist dabei, sie ist | |
Muslimin. Später stellt sich heraus, dass man auch mit ihr über Israel | |
reden kann, ohne dass gleich das Tischtuch zerreißt: Es ist ja wahr, die | |
Schwulen und Lesben können im Nachbarland unbehelligt leben, unbehelligter | |
als im schon vergleichsweise liberalen Libanon – doch niemals könnte Helem | |
offiziell mit israelischen NGOs kooperieren, der Laden würde sofort | |
dichtgemacht: von „denen“, der Regierung, trotz allem Willen zur Demokratie | |
eine Riege alter Herren, die in ihre versunkenen, religiös-traditionellen | |
Erzählungen verstrickt sind, während die Jugend des Landes längst andere | |
Dinge im Kopf hat. Und seien es eben Gucci-Sonnenbrillen. Auch die | |
Hisbollah sitzt im Parlament, neulich erst übergab sie der Polizei mehrere | |
HIV-positive schwule Männer: sie hatten in einer medizinischen Einrichtung | |
der Hisbollah um Hilfe ersucht. Und keine Gnade gefunden. | |
Wenigstens gibt es mittlerweile eine publizistische Plattform, auf der | |
solche Themen diskutiert werden: In Beirut erscheint das erste und einzige | |
arabischsprachige Vierteljahresheft für Schwule und Lesben, es heißt Barra | |
Magazine und wird hauptsächlich über das Internet vertrieben. Einer der | |
Herausgeber ist Mitinhaber eines der bekanntesten Restaurants der Stadt, | |
des Walimat Wardeh im Stadtteil Hamra, Treffpunkt für die Beiruter Boheme, | |
für Schwule, Lesben, internationale Besucher. | |
Mit Hochgeschwindigkeit weiter zum BO 18 im Stadtteil Karantina, einem der | |
geilsten und bekanntesten Clubs Beiruts. Hier wird nicht auf Scherben, | |
sondern auf Gräbern getanzt. Das BO 18 ist ein riesiger unterirdischer | |
Bunker inmitten einer Art Parkplatz, erbaut genau dort, wo während des | |
Bürgerkriegs eines der schlimmsten Massaker mit über tausend Toten | |
stattgefunden hat. Der Stararchitekt Bernhard Khoury hat hier ein makabres | |
Ensemble zusammengestellt, man sitzt auf Holzsärgen, die zu plüschigen | |
Sitzbänken werden, wenn man sie in der Mitte auseinander klappt. Auf | |
Tabernakeltischen stehen Bilder von „Märtyrern“ zwischen Aschenbechern und | |
halb vollen Gläsern: In Restbekleidung tanzen hier die Jungen und Schönen, | |
Schwule, Muslime, Lesben, Christen, Transidente, Armenier, Drusen, Heteros, | |
Schiiten – das alles ist so was von egal für den Moment. | |
„In Beirut ist alles erlaubt, nur nicht, jemanden zu verletzen“, sagt | |
Mohammed, ein schöner junger Muslim. Das aus rostigem Stahl bestehende Dach | |
des Clubs öffnet sich, gibt den Blick frei auf den Sternenhimmel des Nahen | |
Ostens, kühle Luft durchströmt die schwitzende Party-Crowd. Und endlich | |
geht die Sonne auf, von irgendwoher singt ein Muezzin. Nun wird es Zeit für | |
die Beiruter Jugend, nach Hause zu fahren: zurück in die jeweiligen | |
Ghettos, getrennt nach Herkunft und Religion, nach Hause zu den Eltern, | |
wieder brav sein, Rücksicht nehmen, respektvoll sein. Nur Eli verschwindet | |
mit einem attraktiven Amerikaner im Hotel, schickt seiner Mutter eine SMS: | |
„Bin über Nacht bei Freunden.“ In Beirut ist alles erlaubt, nur nicht, | |
jemanden zu verletzen. Genau darin besteht wohl das Problem. | |
Vorerst letzte Message von Eli, 24. Juli 2006, 23.16 Uhr: „Bin ab dem 3. | |
August in Dubai, das hat hier alles keinen Zweck mehr, es wird nie besser | |
werden. Der Preis für die Zerstörung des Libanons geht an Israel und die | |
Hisbollah“. | |
29 Jul 2006 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
## TAGS | |
Best of Martin | |
Libanon | |
Was heißt Klimakrise auf Arabisch? | |
Kolumne Der rote Faden | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kampf in Geflüchtetenlager im Libanon: Zwischen IS- und Arafat-Postern | |
Islamist*innen und Anhänger der Fatah bekämpfen sich in einem Lager für | |
palästinensische Geflüchtete. Die Perspektivlosigkeit befeuert die | |
Eskalation. | |
Gegen das Patriarchat, für den Planeten: Frauenpower gegen die Klimakrise | |
Die Hälfte der Libanes*innen sind Frauen – doch in Politik und | |
Wirtschaft sind sie unterrepräsentiert. Carole Ayyat Bukhatir will das | |
ändern. | |
Trauer und Zeitung machen: Tage ohne Ordnung | |
Je dichter die Nachrichten an die BlattmacherInnen heranrücken, desto | |
schwieriger ist es, kühl zu berichten. Diese Woche war besonders | |
herausfordernd. |