# taz.de -- Ukrainischer Handballklub in Deutschland: Exil am Rhein | |
> Die zweite deutsche Handballliga gewährt dem HC Motor Saporischschja | |
> Asyl. Es ist vor allem für die Ukrainer eine extreme Herausforderung. | |
Bild: Spieler des HC Motor Saporischschja beim Start in die Exil-Saison gegen d… | |
Am 9. März gegen Österreich in Coburg. Zwei Tage später das Rückspiel, in | |
Graz. „Österreich ist eine sehr stabile Mannschaft“, sagt Sascha Gladun, | |
„aber wir haben gute Chancen, so schlecht sind wir nicht.“ Gladun ist der | |
Generalsekretär des ukrainischen Handballverbandes. Wir sprechen über | |
Qualifikationsspiele zur Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Neben | |
Österreich und Rumänien sind die Färöer Gegner der ukrainischen Auswahl; | |
das erste Spiel gegen die Nordmänner hat sie gewonnen. „Wir wollen | |
unbedingt zur EM“, sagt Gladun. | |
Er zählt Spieler des Kaders auf; sie verdienen ihr Geld in Bukarest, Pulawy | |
oder Stralsund. Zehn Profis kommen vom HC Motor Saporischschja. | |
Entscheidend werde wohl die Partie gegen Rumänien werden – im April, „zu | |
Hause“, wie Gladun sagt, und lacht. Zu Hause. Im Ausland. Wie die | |
Handballer des HC Motor Saporischschja es inzwischen gewohnt sind. | |
Wir sprechen über Handball. Länderspielpause. Allein die Beschäftigung mit | |
eigener Stärke und möglicher Aufstellung des Gegners zeigt, dass es einen | |
Alltag gibt im Leben eines Exil-Ukrainers, etwas Normalität – was gar nicht | |
so leicht ist, bei all den Sorgen. Gladun, 50, wohnt in Oberammergau und | |
arbeitet in Herrsching bei München als Sportlehrer. Er spricht perfekt | |
Deutsch, ist seit 1996 hier, war Handballprofi in der Bundesliga. | |
Seit Beginn des Krieges hat er Stunden reduziert und hilft, wo er kann: | |
Organisator. Fluchthelfer. Netzwerker. Übersetzer. Krankentransporteur. | |
Eine harte Belastung. Da tut diese Beschäftigung mit seinem liebsten Sport | |
einfach gut: Es geht weiter, die Nationalmannschaft versammelt sich zu | |
Qualifikationspartien. [1][Während in der Heimat seit mehr als einem Jahr | |
Krieg ist.] Zu Hause: Das wird für die ukrainischen Handballspieler wohl | |
bedeuten, die Partie gegen Rumänien in Berlin auszutragen. Gladun sagt: | |
„Wir sind dem deutschen Handball dankbar, weil es die ukrainische | |
Nationalmannschaft ohne seine Hilfe nicht mehr geben würde.“ | |
## Anfängliches Gegrummel | |
Es gibt die ukrainische Nationalmannschaft auch ein Jahr nach Beginn des | |
Krieges noch, weil es den HC Motor Saporischschja gibt. Weil es [2][Frank | |
Bohmann] und die Handball-Bundesliga (HBL) gibt. Weil es die Stadt | |
Düsseldorf und deren Event-Tochter gibt. Die Elite-Handballer des Landes | |
existieren weiterhin, weil sich 19 deutsche Zweitligisten nach anfänglichem | |
Gegrummel daran gewöhnt haben, Saporischschja als Gast zu beherbergen: | |
Heimspiele in Düsseldorf, Auswärtsspiele in Aue, Balingen, Lübeck, | |
Hüttenberg oder Rostock. Eine europaweit einzigartige Solidaritätsaktion, | |
die dergestalt keine andere Sportart probiert hat: Eine Liga adoptiert | |
einen Klub. | |
Anfangs mögen Skepsis und Unbehagen überwogen haben. Als „Farce“ | |
bezeichneten manche den Transfer des ukrainischen Rekordmeisters ins | |
deutsche Unterhaus im Sommer 2022. HBL-Chef Bohmann sagt: „Es war | |
schwierig. Die Dauerkarten waren gedruckt, das 19. Heimspiel schwer zu | |
vermarkten. Eine Reise mehr. Mehr Belastung und ein umgestrickter | |
Spielplan: Es gab mehr Fragen als Antworten.“ Doch nun hat der HC Motor | |
Saporischschja schon 21-mal in der 2. Bundesliga gespielt. | |
Die Akteure leben und trainieren in Düsseldorf. Für ihre Gehälter sorgt der | |
Sponsor: Motor Sitsch aus Saporischschja, renommierter, hochmoderner | |
Hersteller von Hubschrauberturbinen, Flugmotoren, Gasturbinen. Exporteur in | |
die ganze Welt. Für Kosten der Heimspiele und die Unterbringung in | |
Wohnungen kommt die Stadt Düsseldorf auf – sie soll dafür rund eine Million | |
Euro ausgeben. | |
Seit August 2022 tragen die ukrainischen Handballer ihre Spiele nun im Exil | |
am Rhein aus. Nicht in der „richtigen“ Heimat am Dnepr, 2.000 Kilometer | |
entfernt. Zu den Auftritten des HC Motor im Düsseldorfer „Castello“ ist der | |
Eintritt frei. Es gibt sogar einen Stand mit Fan-Utensilien. 300 bis 400 | |
Menschen kommen. Auch zuhause schauen sie zu, denn die Spiele werden im | |
Livestream übertragen – wenn es dort Strom gibt. | |
Ihre arrivierten Spieler wie Torwart Gennadi Komok (35 Jahre) oder | |
Linksaußen Zakhar Denysov (33) haben genauso Auskunft gegeben wie die | |
jungen und jüngsten im Kader, kaum älter als 20 Jahre. Die Antworten, die | |
kamen, bewegten sich weit aus dem heraus, was normalerweise im Sport | |
verhandelt wird. „Ich habe schon manchmal ein schlechtes Gewissen, hier | |
Handball zu spielen und nicht dort unser Land zu verteidigen“, hat Denysov | |
gesagt. Aber er hat auch seine neue Rolle hervorgehoben, wenn er sagt: „Die | |
Leute zuhause sind stolz auf uns. Wir wollen der Welt zeigen, dass unser | |
Handball weiter existiert.“ | |
Gelebte Solidarität | |
Manches klang martialisch, wenn es hieß, es werde nicht im Krieg gekämpft, | |
sondern auf dem Handballfeld. Andere haben einfach geschwiegen, oder ihnen | |
versagte die Stimme, als sie gefragt wurden, ob sie in der Heimat Freunde | |
an der Front verloren hätten. Oder einfach zugegeben, [3][dass sie sich in | |
Düsseldorf gerade sicherer fühlten als in der Ukraine.] | |
Verbands-Vize Gladun kennt alle Männer und ihre Familien. Gerade die | |
älteren Spieler haben Frauen und Kinder in Düsseldorf mit dabei. Er sagt: | |
„Fragen darf man sie alles. Aber dieses Thema ist richtig schwierig. Jeder | |
entscheidet für sich selbst, wie er antwortet. Für mich als | |
Verbandsfunktionär ist wichtig, dass diese Spieler gesund bleiben, dass sie | |
keine psychischen Verletzungen bekommen – sonst hätten wir gar keine | |
Nationalmannschaft zusammengestellt.“ | |
Dass sie ihr Land verlassen durften und nicht zur Armee eingezogen wurden, | |
lag daran, dass sie einen Status als Nationalmannschaftsathleten hatten. | |
Dieses Sonderrecht ließ sie ihren Beruf als Handballspieler weiter ausüben. | |
Denn zuhause herrschte Kriegsrecht, und Männer zwischen 18 und 65 mussten | |
bleiben. Das Sportministerium erbat das Sonderrecht für die Handballer, die | |
Regierung erteilte es. | |
Hier kommt der rührige Teamchef Dmytro Karpuschtschenko ins Spiel. Er | |
reiste im Frühling 2022 zunächst durch Osteuropa und versuchte, HC Motor | |
unterzubringen. In Polen, der Slowakei, Tschechien. Die deutsche Variante | |
gefiel dann nicht nur ihm, sondern auch den Verbandsoberen am besten. Was | |
HBL-Chef Frank Bohmann zunächst wie eine „Schnapsidee“ vorkam, wurde im | |
Laufe vieler Gespräche zur gelebten Solidarität. | |
Mit Unterstützung der HBL und großer, wirklich einmal „unbürokratischer | |
Hilfe“ der städtischen Sport- und Event-Tochter „D-Live“ startete der HC | |
Motor mit der Partie am 31. August 2022 gegen Bayer Dormagen in seine | |
Düsseldorfer Exilsaison. Karpuschtschenko sagt: „Es ist nicht leicht für | |
uns. Wir schauen ständig auf unsere Handys und gucken, was zuhause los ist. | |
Aber wir sind auch Profis und versuchen die Gedanken an die Heimat während | |
der Spiele und des Trainings auszuschalten.“ | |
Ein Sonntagnachmittag in Rostock. Heimspiel des HC Empor gegen HC Motor in | |
der Stadthalle gleich hinter dem Bahnhof. Die Vereinsfarben der Rostocker | |
sind Gelb und Blau; auf ihr Heimspielheft haben sie eine Friedenstaube | |
gedruckt. 400 Zuschauerinnen und Zuschauer sind dabei, sie haben ihre | |
Eintrittskarten bezahlt, obwohl das Spiel gegen Saporischschja aus der | |
Wertung genommen wird wie alle Partien der Ukrainer. | |
## Nationalteam an einem Ort | |
Wer russische Trolle oder ukrainische Fanblöcke erwartet hat, wird | |
enttäuscht. Drei Frauen haben eine ukrainische Fahne dabei und jubeln bei | |
Toren des HC Motor. Es ist ein Handballspiel wie jedes andere. 31:30 | |
gewinnt Saporischschja, es ist erst der siebte Saisonsieg, was zeigt, wie | |
gut die zweite Liga ist – allerdings hat das aktuelle Motor-Team auch wenig | |
mit dem zu tun, das jahrelang in der Champions League spielte. Viele | |
„Legionäre“ liefen damals auf. Nun ist die frühere zweite Mannschaft von … | |
Motor die erste – was auch Vorteile hat: „Früher war unsere | |
Nationalmannschaft über ganz Europa verstreut, jetzt haben wir viele | |
Ukrainer bei HC Motor und das Ganze ist eingespielter“, sagt Sascha Gladun. | |
Das lässt sich am Erfolg ablesen. Der HC Motor findet sich mit seinem | |
jungen Team besser in der Liga zurecht. Der Aufschwung schlägt sich auch im | |
europäischen Wettbewerb nieder – nur zwei Tage nach dem Sieg in Rostock | |
gewinnt der Klub im nordmazedonischen Bitola gegen HC Eurofarm Pelister und | |
erreicht das Achtelfinale der Europa League. Über starke Einzelkönner | |
verfügt man ohnehin; der Halblinke Igor Turtschenko ist der beste | |
Torschütze der zweiten Bundesliga; für ihn geht es darum, einen Vertrag bei | |
einem europäischen Klub der Mittelklasse zu unterschreiben: das Exil als | |
Sprungbrett. | |
Es ist viel herumgekrittelt worden an diesem [4][Solidaritätsprojekt]. | |
Warum nimmt die HBL keine Mannschaft aus Syrien auf? Sollte Düsseldorf das | |
Geld für HC Motor nicht besser in Lieferwagen voller Hilfsgüter stecken? | |
Oder, noch weiter weg von der Realität: Na toll, Deutschland hilft da | |
irgendwelchen Handballern, liefert aber keine Kampfjets. Aus solch kruden | |
Vergleichen haben sich die HBL und der HC Motor herausgehalten, wissend, | |
dass man sich daran nur verheben kann. | |
Die Frage ist nun: Wie geht es weiter? In Rostock überrascht der dortige | |
Vereinsvorsitzende Tobias Woitendorf. Er greift vor dem Spiel zum Mikrofon | |
und sagt: „Wenn es keine bessere Alternative gibt, als dass Saporischschja | |
hier bei uns in der zweiten Liga spielt, weil es dort nicht möglich ist, | |
dann freuen wir uns, wenn wir Saporischschja auch im nächsten Jahr in der | |
zweiten Liga begrüßen können.“ Der anschließende Applaus wirkt aufrichtig. | |
Realistisch ist die Verlängerung nicht. „Wir werden den Spielplan mit | |
Saporischschja sauber abarbeiten“, sagt Oliver Lücke aus der | |
HBL-Geschäftsführung. Verein und Verband ahnen, dass Anfang Juni am 38. | |
Spieltag das deutsche Exil endet. | |
## Gespräche mit anderen Ligen | |
Sascha Gladun sagt: „Wir wissen, dass die Liga reduziert werden soll. Es | |
ist auf Dauer nicht leicht, mit einem ausländischen Verein in der | |
heimischen Liga. Die kostenlose Variante der Stadt Düsseldorf kann nicht | |
ewig halten. Düsseldorf ist in einer für uns ganz schwierigen Situation | |
aufgetaucht. Wir spüren inzwischen so viel Unterstützung, wo anfangs | |
Skepsis war. Vielleicht wäre ein anderer Standort in der neuen Saison der | |
richtige.“ Schon soll es Gespräche mit der polnischen, slowakischen und | |
ungarischen Liga gegeben haben. | |
Es wird weitergehen mit den Handballern des HC Motor, wo auch immer, denn | |
das Turbinenwerk in Saporischschja will eine weitere Saison die Gehälter | |
übernehmen. Also wird auch dann ein Nationalteam existieren. Sascha Gladun | |
sagt: „Aus einer katastrophalen Situation haben sich ein paar gute Sachen | |
entwickelt. Wir haben unsere Sportart erst einmal gerettet.“ | |
8 Mar 2023 | |
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