| # taz.de -- Weihnachten im Geflüchtetenheim: Ein Heim macht Hoffnung | |
| > Im Haus Leo der Berliner Stadtmission wohnen Geflüchtete jahrelang, weil | |
| > sie keine Wohnung finden. Das Zusammenleben klappt hier gut. | |
| Bild: Weihnachten, hier einer anderen Berliner Geflüchtetenunterkunft | |
| Berlin taz | Sona Antonyan sitzt am Esstisch ihrer kleinen | |
| Zweizimmerwohnung in Mitte. Sie schneidet Bananen, Birnen, Äpfel und Kiwis | |
| für sich und ihren 4-jährigen Sohn Mikael in kleine Stücke. Er sitzt auf | |
| dem Stuhl neben der jungen Frau, den Kopf auf die Hand gestützt. Seine | |
| Augen verfolgen aufmerksam die bunten Zeichentrickfiguren auf dem | |
| Laptop-Bildschirm vor sich. Die Familie wirkt harmonisch und unbeschwert – | |
| doch das war nicht immer so. Hinter Mikael hängt ein ausgedrucktes Foto an | |
| der Wand, das den kleinen Jungen zeigt. Darüber steht in Druckbuchstaben | |
| geschrieben: Cancer free. Und das Datum: 4. März 2022. | |
| Die vierköpfige Familie Antonyan aus Armenien wohnt in der | |
| Flüchtlingsunterkunft im Haus Leo in der Lehrter Straße, das wiederum zur | |
| Berliner Stadtmission gehört und von der Evangelischen Kirche getragen | |
| wird. In Armenien studierte Sona Antonyan an der Uni, lernte Griechisch und | |
| Englisch. Doch schon kurze Zeit nach der Geburt ihres zweiten Sohnes zog | |
| die junge Familie nach Russland. Der Grund: Mikael erkrankte schon in den | |
| ersten Monaten seines Lebens an Blutkrebs. In Russland hofften die Eltern | |
| auf eine bessere medizinische Versorgung für ihren Sohn. Eine | |
| Bluttransfusion blieb allerdings ohne Erfolg, kurz darauf kam die | |
| Schocknachricht: Dem kleinen Jungen blieben vermutlich nur noch zwei Monate | |
| zu leben. | |
| ## Mikaels letzte Chance | |
| Die russischen Ärzte empfahlen der Familie, ihr Glück in Deutschland zu | |
| versuchen, wie Sona Antonyan sagt. „Das war Mikaels letzte Chance“, sagt | |
| die Mutter, „also gingen wir.“ Im Oktober 2021 kam die Familie in Berlin | |
| an, die folgenden sechs Monate verbrachte sie gemeinsam mit Mikael in der | |
| Berliner Charité – bis der kleine Junge im Frühling schließlich für | |
| krebsfrei erklärt wurde. | |
| Die Geschichte der Familie Antonyan ist eins von verschiedensten | |
| Schicksalen im Haus Leo. Seit Beginn des Projekts im Februar 2011 wuchs die | |
| Einrichtung rasant: Wo zu Beginn 17 Menschen in vier Wohnungen wohnten, | |
| beziehen aktuell rund 150 Asylsuchende, aber auch anerkannte Geflüchtete | |
| und Spätaussiedler, die insgesamt 22 Zweizimmer- und 30 Einzelwohnungen. | |
| Viele Bewohner leben schon jahrelang im Haus Leo – manche sind seit zehn | |
| Jahren hier – und scheinen sich dort wohlzufühlen. Aber wie sehr kann man | |
| wirklich Heimat in einem Haus finden, das eigentlich nur eine | |
| Übergangslösung sein soll für die Geflüchteten? | |
| Die meisten bleiben auch keinesfalls freiwillig jahrelang im Haus Leo, sie | |
| würden lieber in eine eigene Wohnung ziehen. Doch der [1][angespannte | |
| Wohnungsmarkt in Berlin] macht es geflüchteten Menschen nicht leicht. Das | |
| kennt auch Wshyar Mohammed gut. Der Familienvater aus dem Nordirak kam 2016 | |
| nach Deutschland, seit 2017 wohnt er im Haus Leo. Mit seiner Frau und | |
| seinen drei Kindern teilt er sich zwei Zimmer. | |
| Seit seiner Ankunft in Deutschland hat Mohammed bereits zwei Herzinfarkte | |
| erlitten, den letzten erst vor zwei Wochen. Mittlerweile habe er schon den | |
| siebten Stent. Zwei seiner drei Kinder sind außerdem chronisch krank. Der | |
| älteste Sohn leide an starken Kopfschmerzen, bei denen meistens nur Ruhe | |
| hilft. „Das ist allerdings nicht so leicht, wenn man zu fünft in einer | |
| kleinen Wohnung lebt“, sagt der Familienvater. Das andere Kind stünde | |
| wiederum auf der Warteliste für eine Nierentransplantation. Seit zwei | |
| Jahren müsse es zweimal pro Woche zur Dialyse ins Krankenhaus – in der | |
| kleinen Wohnung der Familie sei kein Platz für die großen medizinischen | |
| Geräte, die es dafür braucht. | |
| Mohammed liegt es besonders am Herzen, trotz allem seine Dankbarkeit für | |
| die Unterkunft und für das fürsorgliche Personal zu zeigen. „Ich würde mich | |
| niemals beklagen“, sagt er, „wenn man schon so viel bekommt, ist Gier nicht | |
| angemessen.“ Das Haus habe ihm eine große Last abgenommen. „Es trägt eine | |
| Hälfte von mir“, sagt der Familienvater. | |
| Zum angespannten Berliner Wohnungsmarkt kommt noch [2][Diskriminierung und | |
| Rassismus gegenüber den Geflüchteten] hinzu. Sayed Obaidullah Akhund Zada – | |
| im Haus wird er Obaid genannt – war bereits auf zahlreichen | |
| Wohnungsbesichtigungen, wie er erzählt. „Ich werde eigentlich immer | |
| gefragt, ob ich arbeite und wie viel ich verdiene“, sagt er. „Wenn ich dann | |
| erzähle, dass ich einen Minijob als Barmann habe, ist die Besichtigung | |
| vorbei.“ | |
| Obaid lebt schon seit sechs Jahren in Berlin und spricht fast fließend | |
| Deutsch. In seinem Heimatland Afghanistan habe er als Dolmetscher für das | |
| amerikanische Militär gearbeitet, erzählt er. Nachdem bereits sein Bruder, | |
| der ebenfalls für das amerikanische Militär arbeitete, von den Taliban | |
| ermordet worden sei, floh er mit seiner Mutter zu Fuß bis in die Türkei, | |
| erzählt Obaid. Von dort aus habe sie ein Schmuggler über das Meer nach | |
| Griechenland gebracht – im Fischerboot hätten insgesamt über 70 Menschen | |
| gesessen. | |
| „Kurz bevor uns die griechische Küstenwache rettete, reichte uns das Wasser | |
| im Boot bereits bis zur Hüfte“, erinnert sich Obaid. Der 29-Jährige möchte | |
| in Deutschland eine Ausbildung in der IT-Branche machen, bereits neun | |
| Bewerbungsgespräche habe er hinter sich. „Zuletzt sagte mir eine | |
| Personalerin, IT sei nichts für Flüchtlinge“, sagt Obaid. | |
| Die Geflüchteten sind oft einem Teufelskreis aus erfolgloser Wohnungs- wie | |
| Jobsuche und der deutschen Bürokratie ausgesetzt, denn: ohne | |
| Aufenthaltsgenehmigung keinen Job, ohne Job keine Wohnung. Für die | |
| Verteilung Geflüchteter auf die verschiedenen Unterkünfte ist das Landesamt | |
| für Flüchtlinge (LAF) zuständig. | |
| ## Im Ausnahmezustand | |
| Laut einem Sprecher leben in Berlin aktuell rund 30.000 Menschen in | |
| Unterkünften des LAF; etwa 3.300 davon stammen aus der Ukraine. „In diesem | |
| Jahr kamen weit mehr Geflüchtete nach Berlin als 2015“, sagt der Sprecher. | |
| Damals kamen wegen des Syrien-Kriegs ebenfalls Tausende Menschen nach | |
| Berlin. Die wieder deutlich gestiegenen Geflüchtetenzahlen bekommt auch der | |
| Leiter des Hauses Leo, Daniel Manthey, zu spüren. „Das Land Berlin ist in | |
| einem Ausnahmezustand“, sagt er. Auch das Haus Leo sei überbelegt. 145 | |
| Plätze gebe es regulär, 147 Personen sind in den Wohneinheiten | |
| untergebracht. | |
| Wo Menschen verschiedener Kulturen auf engstem Raum zusammentreffen, ist | |
| ein Zusammenleben nicht immer einfach. Im Haus Leo käme es jedoch selten zu | |
| Problemen unter den Bewohnern, beteuert das Personal. Man lege aber auch | |
| zum Beispiel besonders großen Wert auf das Kinderprogramm – denn dieses sei | |
| entscheidend für einen friedlichen Umgang. | |
| Wichtig seien auch Anlässe wie das Weihnachtsfest, denn: Auch wenn viele | |
| der Bewohner gar kein Weihnachten feierten, schweiße ein gemeinsames Fest | |
| sie zusammen. Über 100 Bewohner seien zur Weihnachtsfeier gekommen, die | |
| Kinder hätten Hand in Hand auf der Bühne „Feliz Navidad“ gesungen. | |
| Anschließend hätten auch die Erwachsenen ausgiebig getanzt – auch wenn | |
| manchen die Perspektive hier fehlen mag nach vielen Jahren, mutlos sind die | |
| Bewohner nicht. | |
| 24 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sara Guglielmino | |
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