# taz.de -- Die Wahrheit: Der russische Kirmesbär | |
> Allgegenwärtig sind derzeit die Farben Blau-gelb, die tief in eine | |
> Kindheitserinnerung und den Schrecken eines Dorfs führen. | |
Dass ich das Kind eines dörflichen Sportvereinsvorsitzenden im Hessischen | |
war, hatte ich lange Zeit verdrängt. Beim Anblick der unzähligen | |
blau-gelben Solidaritätsfarben auf Fahnen, Gebäuden und Gesichtern derzeit | |
kam mir aber etwas in den Sinn, dessen prophetische Aussagekraft mich | |
schaudern lässt. | |
Die Teams unseres TSV 1911 spielten nämlich in gelb-blauen Trikots. Die | |
Erste mit gelben Trikots, blauen Hosen, die Zweite meist umgekehrt. Wenn | |
die Spiele am Sonntag in der Kreisklasse schmutzig verlaufen waren, | |
brachten die Spieler ihre Trikots zu uns, zu meiner Mutter, die sie Woche | |
für Woche wieder sauber wusch. | |
Als fußballbegeistertes Kind war ich sehr stolz auf diese eher seltenen | |
Vereinsfarben und wusste aus der Welt des großen Fußballs, dass Eintracht | |
Braunschweig – damals eine Macht – und Schweden diese Farben trugen. Die | |
Ukraine kannte ich damals natürlich noch nicht, weil die in der Sowjetunion | |
verschwunden war. Mit Schweden war es allerdings zwiespältig, denn bei der | |
Weltmeisterschaft 1958 dort waren die Deutschen unglücklich gegen die | |
Hausherren ausgeschieden. Der Platzverweis gegen Juskowiak war schließlich | |
von unablässigen „Heja, heja!“-Rufen provoziert worden, so die Legende, die | |
noch lange durch deutsche Landen wogte. Nur zu gerecht folgte dann die | |
Strafe für die Schweden im Finale durch ein anderes gelb-blau auflaufendes | |
Team – durch Brasilien. | |
Zu Hause aber war es oft meine Aufgabe, die frisch gewaschenen Trikots fein | |
gestapelt auf den Dachboden zu bringen, wo der Vereinsschrank stand. Da | |
waren nicht nur die Trikotsätze verstaut, sondern auch die Pokale und | |
anderen Preziosen des Vereins. Und etwas ganz und gar Schreckliches, das | |
noch heute mein Blut gefrieren lässt. | |
Oben im Querregal war das Kirmesbärkostüm des Dorfs verstaut, ein | |
scheckig-räudiges Ganzkörpergewand mit einem fürchterlichen dunkelbraunen | |
Bärenkopf. Immer im Herbst zur Dorfkirmes wurde es herausgeholt, um es | |
einem aus dem Schaustellergewerbe überzustülpen, der dann durch den Ort | |
zog. Der Kirmesbär war alles andere als ein freundlicher Zeitgenosse, | |
verfolgte die Kinder unverschämt aufdringlich und rannte manchmal plötzlich | |
um die Ecke, um die Dorfjugend zum Kreischen zu bringen. | |
Ich hatte immer panische Angst vor dem Monster, obwohl ich ja wusste, dass | |
nur ein Kirmeskerl drin steckte. Aber er hatte eben das Böse übergestreift | |
und war unberechenbar geworden. Und es passierte leider immer wieder, dass | |
beim Befüllen des Schranks mit frischen Trikots gleich nach dem Öffnen das | |
Bärenfell herausrutschte und vor mir lag. Das ramponierte Maul stand offen | |
und fletschte mich an. Dann lief ich meistens weg, hinunter ins Haus, und | |
es dauerte eine Weile, bis ich den Mut fand, mich wieder an den Schrank zu | |
wagen. | |
So schön die Farben Gelb-Blau auch waren, es gab diesen schrecklichen Bären | |
in der Nähe. Wie heute wieder. | |
16 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Umbach | |
## TAGS | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Ukraine | |
Russland | |
Bär | |
Bahn | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Ostern | |
Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
Kolumne Die Wahrheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Neun-Euro-Fahrgast Null | |
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte | |
Leserschaft an einem Poem über der ersten Billigbahnfahrer erfreuen. | |
Die Wahrheit: Bertie zum Hundertundfünfzigsten | |
Am 18. Mai 1872 wurde Bertrand Russell geboren. Ein Mathematiker und | |
Philosoph, Kriegsgegner und Jahrhundertlogiker. | |
Die Wahrheit: Ostern in Gelb und Blau | |
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte | |
Leserschaft an einem Poem über ein Fest in ukrainischen Farben erfreuen. | |
Die Wahrheit: Weißer Hai vom Schwarzen Meer | |
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte | |
Leserschaft an einem Poem über einen kalten russischen Fisch erfreuen. | |
Die Wahrheit: Die Fernvermehrung | |
Die Fernbedienung verschwindet und beendet abrupt den Fernsehabend. | |
Gefunden wird sie im üblichen Versteck – nicht allein. | |
Die Wahrheit: Missbrauchsopfer Führerschein | |
Es ist soweit: Alte Jahrgänge, die noch den „Lappen“ haben, müssen auf | |
Digital umstellen. Manche geben ihn aber besser gleich ab. |