# taz.de -- Truckerproteste in Kanada: Am Rande des Abgrunds | |
> Die „Trucker-Proteste“ in Kanada waren ein gezielter Umsturzversuch von | |
> rechts. Vorerst ist das gescheitert, aber die Konfrontation bleibt. Ein | |
> Essay. | |
Bild: Polizei gegen Protestcamps: Ottawa, 19. Februar | |
OTTAWA taz | Die internationale Berichterstattung über die jüngsten | |
Ereignisse in Kanada, bis hin zur Besetzung der Hauptstadt Ottawa durch | |
Protestierende, erzeugte den Eindruck einer friedlichen Aktion von | |
Lkw-Fahrern, die sich g[1][egen Impfauflagen auf beiden Seiten der | |
US-kanadischen Grenze wandten.] Doch die meisten Menschen in Kanada sahen | |
das anders. Sie hielten die Straßenblockaden durch Lastwagenfahrer, die | |
selbst zu 82 Prozent vollständig geimpft sind, weder für friedlich noch für | |
einen Impfprotest, denn bei ihrer Ankunft in [2][Ottawa setzte die | |
Protestbewegung] der Regierung des liberalen Premierministers Justin | |
Trudeau ein Ultimatum: Tritt ab oder wir setzen dich ab. | |
Kanadier kommen nur schwer klar mit diesem Ausmaß von Hass und Hetze | |
seitens zunächst vorgeblich normaler Menschen, die bloß der | |
Pandemierestriktionen müde seien und endlich Gehör suchten. Nur wenige | |
wollen anerkennen, dass es in Kanada tatsächlich Gruppen gibt, die der | |
Gesellschaft ernsthaften Schaden zufügen wollen. Noch alarmierender ist die | |
Tiefe der rassistischen und faschistischen Ansichten von Angehörigen dieser | |
Gruppen, oft als Echo der Ansichten der Anhänger von Donald Trump südlich | |
der Grenze. | |
Die vier Anführer dieser Protestkoalition aus Alt-Right-Gruppen, unter | |
denen sich White Supremacists, Neonazis, Antisemiten und Libertäre | |
befanden, fuhren durch Kanada mit Flaggen der US-Konföderationsstaaten, des | |
„Dritten Reichs“, Hakenkreuzen, gelben Sternen und Drohungen gegen den | |
Premierminister. Die „friedlichen“ Protestierenden errichteten in Ottawa | |
Zelte und Hüpfburgen, betätigten Tag und Nacht ihre 106-Dezibel-Hupen, | |
richteten offene Feuer und Küchen und Badestellen ein. Sie machten jede | |
Nacht Party, blockierten den öffentlichen Nahverkehr und beschimpften | |
Maskenträger, vor allem solche aus sichtbaren Minderheiten. Sie | |
verrichteten ihr Geschäft auf offener Straße, schändeten Kriegsdenkmäler, | |
tanzten auf dem Grab des unbekannten Soldaten, und als sie aufgefordert | |
wurden, weniger Lärm zu machen, versuchten sie, zwei Wohngebäude in Brand | |
zu setzen. Nach Ottawa blockierten sie die wichtigsten Straßen in die USA, | |
um das Land lahmzulegen. | |
## Ein Land, zwei Gesellschaften | |
Der Schock, den dies in Kanada erzeugte, hat mit dem rasanten Tempo zu tun, | |
in dem sich eine Spaltung der Gesellschaft offenbarte. Im Rückblick gab es | |
einen klaren Rechtsruck in der politischen Kultur bereits 2003, als die | |
kanadischen Konservativen mit der von der extremen US-Rechten inspirierten | |
Reform Party zur CPC (Conservative Party of Canada) fusionierten, die eine | |
Schwächung der bundesstaatlichen Ebene und die Privatisierung von | |
Gesundheit und Bildung verlangte. 2006 erlangte die CPC die Macht unter | |
Stephen Harper, dessen neun Jahre im Amt das Sozialsystem aushöhlten, | |
ausländische Kontrolle kanadischer Medien ermöglichten, die Wissenschaft | |
knebelten und die Einwanderungspolitik weg von Familienzusammenführung | |
führten. | |
2015 wurde die CPC abgewählt, aber ihr Erbe lebt weiter in Form einer | |
sozialen und politischen Spaltung Kanadas in einer Zeit von | |
Deindustrialisierung und dem gleichzeitigen Zuzug hochgebildeter Migranten, | |
was viele Angehörige der kanadischen Arbeiterklasse vor allem in kleineren | |
Orten und auf dem Land auf der Strecke ließ. In weniger als zwei | |
Jahrzehnten hat sich Kanada gespalten, städtisch gegen ländlich, entlang | |
der Linien von Bildung, Wohlstand und Ethnie. Das städtische Kanada wählt | |
liberal, das ländliche konservativ. Anders als den US-Republikanern gelang | |
der CPC nicht die Rückkehr an die Macht an der Wahlurne, aber ähnlich wie | |
die US-Republikaner unter Trump greift sie zu rassistischer Rhetorik, | |
Verschwörungstheorien, Lügen und Desinformation, unterstützt von Medien in | |
US-Besitz. | |
## Von der Pandemie zum „Freiheitskonvoi“ | |
Die Covid-19-Pandemie traf Kanada ebenso hart wie andere Nationen, aber die | |
liberale Regierung bewältigte die Herausforderung ganz gut, trotz des | |
Missmanagements der Impfprogramme durch konservativ regierte Bundesstaaten. | |
Dass Pandemierestriktionen und Impfauflagen in Kanada ausschließlich | |
Ländersache sind, der „Freedom Convoy“ aber seine aggressiven Forderungen | |
an die Bundesregierung richtete, war ein Faktor, der Misstrauen über die | |
wahren Motivationen der Protestbewegung erzeugte. | |
Noch beunruhigender für die zu 90 Prozent voll geimpfte kanadische | |
Bevölkerung war die Erkenntnis, dass diese relativ kleine Protestbewegung | |
in weniger als zwei Wochen 14,7 Millionen kanadische Dollar (über 10 Mio. | |
Euro) Spenden eingesammelt hatte, 52 Prozent davon aus den USA. Als die | |
Gewalt der Protestierenden gegen Regierung und Öffentlichkeit in Ottawa | |
immer offensichtlicher wurde, fror die Spendenwebseite GoFundMe das | |
Spendenkonto ein. US-Republikaner zwangen GoFundMe dazu, die Spendengelder | |
zurückzugeben, was den Geldgebern dann eine zweite Spendenwelle ermöglichte | |
– über die Webseite GiveSendGo, bekannt geworden als die Finanzquelle der | |
Trump-Unterstützer beim Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar | |
2021. | |
Nach drei Wochen täglicher Gewalt, kompletter Lähmung der Polizei und | |
Desinteresse der Landesregierung von Ontario nahmen Bürger in Ottawa die | |
Sache in die eigene Hand, um den Zuzug weiterer Wochenenddemonstranten zu | |
verhindern. Zwei Tage später beschloss Kanadas Bundesregierung, die | |
Notstandsgesetze zu aktivieren – zum ersten Mal seit ihrem Inkrafttreten | |
1988. Dies ermöglichte, Polizeieinheiten aus anderen Bundesstaaten sowie | |
die Bundespolizei RCMP hinzuzuziehen, um die „Besetzung“ zu beenden. Wieder | |
einmal waren es vor allem US-Medien, die Kanadas Premierminister der | |
Diktatur und Tyrannei bezichtigten und Falschmeldungen über Polizeigewalt | |
und getötete Demonstranten verbreiteten. CPC-Parteikader griffen diese | |
Rhetorik auf und forderten Premier Trudeau auf, sich den Besatzern zu | |
beugen. Der wachsende Einfluss der US-Politik ist schwer zu übersehen, wenn | |
festgenommene Protestführer gegenüber der kanadischen Polizei Rechte unter | |
der US-Verfassung beanspruchen. | |
## Das Notstandsgesetz und die Einheit Kanadas | |
Kanadas Notstandsgesetz – anders als das Kriegsrechtsgesetz, das Justin | |
Trudeaus Vater Pierre Elliot Trudeau 1970 verabschieden ließ – schützt | |
ausdrücklich alle Grundrechte und Freiheiten, bewahrt die | |
Rechenschaftspflicht der Polizei und sieht keinen Einsatz der Armee vor. Es | |
erlaubt den Behörden aber, die Finanzquellen gesetzeswidriger Handlungen zu | |
ermitteln. Das hat die Finanzierung des Protests durch Rechtsextremisten | |
gestoppt. | |
Polizei und Rechtsexperten bestätigen, dass der Notstand nötig war, um | |
Ottawa von einer Gruppe zu befreien, die das Stadtzentrum besetzt und drei | |
Kommandozentralen in wenigen Kilometern Entfernung errichtet hatte. Die | |
Bewegung machte es klar, dass ihr Ziel ist, die demokratisch gewählte | |
Regierung zu stürzen. Sie präsentierte ein Memorandum, das den Rücktritt | |
der Regierung und die Machtübernahme durch Bürgerkomitees in Koalition mit | |
Teilen der Konservativen, des Generalgouverneurs und des Senats vorsah. | |
Der Regierung blieb eine Woche Zeit, um die Aktivierung des | |
Notstandsgesetzes durch das Parlament bestätigen zu lassen. Die liberale | |
Minderheitsregierung von Justin Trudeau musste mindestens eine weitere | |
Partei auf ihre Seite ziehen, gegen die Konservativen von der CPC und die | |
Québec-Separatisten des Bloc Québecois. Nun hat die linke NDP (New | |
Democratic Party) der Regierung eine bedingte Unterstützung geliehen, | |
behält sich aber vor, diese wieder zurückzuziehen, sollten ihre Mitglieder | |
entscheiden, dass die Notstandsbefugnisse nicht mehr benötigt werden. | |
Das Votum im Unterhaus am Montagabend ist nur eine Etappe. Unter den zehn | |
Bundesstaaten Kanadas werden acht von den Konservativen regiert, die gegen | |
den Notstand sind. Sie drohen nun mit einer Klage gegen die Bundesregierung | |
für Überschreitung ihrer Kompetenzen. Dies könnte Kanada in eine | |
Verfassungskrise stürzen. Eine Mehrheit von sieben Bundesstaaten, die | |
zusammen 50 Prozent der Bevölkerung Kanadas ausmachen, ist nötig, um eine | |
Verfassungsreform zu starten. Bisher hat nur der Bundesstaat Alberta Klage | |
eingereicht, aber Saskatchewan, Manitoba und selbst Québec könnten sich | |
anschließen. Die Intention mancher, Kanada zu zerschlagen – vor allem in | |
den Öl- und Gasgebieten des Westens – ist offensichtlich und gibt vielen | |
Menschen Anlass zu großer Sorge. | |
Kanada ist nicht für den Umgang mit Extremismus und Gewalt ausgerüstet und | |
kann nicht zulassen, dass die Spaltung der Gesellschaft sich verfestigt. | |
Kanadier müssen die soziopolitische Kluft erkennen, die zu dieser Spaltung | |
führte, und Wege finden, sie zu überwinden. Für jede Regierung wäre das | |
eine Herausforderung – für eine Minderheitsregierung unter einem bedrängten | |
Anführer erst recht. Der Ausgang dieser Entwicklung wird das Kanada des 21. | |
Jahrhunderts prägen. | |
Übersetzung aus dem Englischen von [3][Dominic Johnson]. [4][Den | |
Originaltext lesen Sie hier.] | |
23 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Salam Hawa | |
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