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# taz.de -- Debatte um den Weihnachtsmann: Na klar gibt es den
> Es gibt Fake News, es gibt falsche Komplimente. Aber seien wir ehrlich:
> Es gibt nur eine Lüge, die sich lohnt: Die Weihnachtslüge.
Bild: Wie, den Weihnachtsmann gibt es nicht?
Wir leben mit einer Lüge, meine Freundin, unsere Tochter und ich. Zwei von
uns wissen das, eine nicht.
Dieses Weihnachten wird das letzte sein, an dem unsere Tochter glaubt, dass
[1][der Weihnachtsmann] die Geschenke bringt. Das vermute ich zumindest.
Sie ist sechs Jahre alt, und in der Schule kursiert eine unglaubliche
Geschichte: „Der Weihnachtsmann, das sind in Wirklichkeit die Eltern.“ Die
Theorie kommt immer mal wieder auf, und wir widersprechen auch nicht, wenn
sie davon erzählt. Wir bleiben eher vage. Sollte sie konkret fragen, sind
wir bereit, die Wahrheit zu sagen. Doch das hat sie noch nicht getan, und
bis es so weit ist, halten wir die schöne Illusion aufrecht.
Oder die Lüge. Denn, wenn man ehrlich ist, ist die Geschichte vom
Weihnachtsmann nichts anderes. Ein großer Betrug, an dessen Ende womöglich
eine große Enttäuschung steht. Wir Menschen lügen oft. Etwa zweimal pro
Tag, sagen aktuelle Studien. Manchmal aus Höflichkeit, manchmal mit böser
Absicht, manchmal liegt die Motivation zur Unwahrheit irgendwo dazwischen.
Die Weihnachtslüge passt da nicht rein: Sie ist eine vorsätzliche falsche
Erzählung mit dem Zweck, Kindern eine Freude zu machen. Ist das richtig so?
Wir haben lange diskutiert, vor fünf Jahren. Eigentlich war uns klar, dass
wir in der Erziehung nicht mit Unwahrheiten agieren wollen. Religiös sind
wir auch nicht – gute Argumente gegen den Weihnachtsfake.
## Lebkuchen für den Weihnachtsmann
Andererseits hätte das bedeutet, dass unser Kind jedes Jahr um Weihnachten
herum eine schwere Bürde hätte tragen müssen. Die Herausforderung nämlich,
es besser zu wissen als die vielen Kinder, die an Weihnachten glauben, und
dennoch nichts zu verraten. Oder am Ende das unbeliebte Kind zu sein, das
die Wahrheit erzählt und die magischen Träume der anderen zerstört. Sehr
viel Verantwortung für ein kleines Mädchen und ein gutes Argument für die
Weihnachtslüge, fand ich damals.
Denn das andere große Argument liegt ja eh auf der Hand: die Freude. Das
leichte Schaudern angesichts des großen Unbekannten, der einmal im Jahr
vorbeikommt, weiß, wo das Kind wohnt und Geschenke dabei hat. Unsere
Tochter malt ihm Bilder, schreibt ihm Briefe, stellt ihm Wasser und
Lebkuchen vor die Tür. Denn da legt der rücksichtsvolle Weihnachtsmann die
Geschenke ab, weil er gehört hat, dass unsere Tochter die Vorstellung
unheimlich findet, wie er allein durch die Wohnung tappt. Es ist eine große
Freude, bei all dem zuzuschauen. Ein Gänsehaut verursachender Zauber, auch
für mich als Vater.
Neulich hat mich ein kürzlich Vater gewordener Bekannter um Rat gefragt.
Weder er noch seine Freundin sind religiös. Was erzählt man, wer die
Geschenke bringt? Soll man Weihnachten überhaupt feiern? „Ich weiß nicht,
ob ich es übers Herz bringe, meinem Kind etwas zu schenken, weil Jesus an
dem Tag geboren wurde und auch was bekommen hat“, schrieb er, und das
konnte ich gut verstehen.
Außerdem: Wenn man jetzt Weihnachten einführe, fand er, müsse man ja so
konsequent sein und die großen Feste der anderen Religionen genauso feiern,
[2][Chanukka] zum Beispiel oder das Opferfest oder Buddhas Geburt. Ich
schrieb ihm, dass ich das grundsätzlich für eine gute Idee halte, bloß
stressig in der Umsetzung vielleicht?
Der Vorteil vom Weihnachtsmann sei, so schrieb ich, dass er auch ohne den
christlichen Hintergrund und so losgelöst von Religion funktioniere. Wenn
jetzt jemand einwenden möchte, dass die Figur des Weihnachtsmanns, wie wir
ihn heute kennen, auf den Coca-Cola-Konzern zurückgeht und unser Umgang mit
dem Kapitalismus quasireligiöse Züge trägt, dann kann ich nur sagen:
Touché.
So ähnlich argumentiert hat letzte Woche ein katholischer Bischof auf
Sizilien. [3][„Den Weihnachtsmann gibt es nicht“], rief er während einer
Messe, er sei nur ein Symbol für die Konsumgesellschaft. Blöd nur: In der
Basilika waren auch Kinder anwesend. Träume zerplatzten. Viele der Eltern
beschwerten sich anschließend über den unerwarteten Geheimnisverrat, sodass
sich die Kirchengemeinde gezwungen sah, sich öffentlich dafür zu
entschuldigen.
Gern wird gesagt, mit der Lüge vom Weihnachtsmann, die irgendwann
auffliegen wird, sorge man dafür, dass die Kinder früh in ihrem Leben eine
große Enttäuschung erleben, die sie in ihrem Grundvertrauen erschüttern
kann.
Ich frage mich: Muss man es nicht andersherum betrachten?
Kinder sind nicht dumm, sie bekommen viele Sachen mit. Klimawandel,
Rassismus, Ungleichheit, all das sind Themen, über die ich schon öfter mit
meiner Tochter gesprochen habe. Nichts davon habe ich von mir aus
angesprochen, nein, sie hatte Fragen. Von sich aus. Auch zur Pandemie:
Natürlich bekommen die Kinder mit, dass Erwachsene längst geimpft sind und
wieder in die Kneipe, zu Konzerten und ins Stadion dürfen, während ihre
Geburtstage ausfallen, der Laternenumzug abgesagt wird und sie erst jetzt
so langsam mit Impfstoff versorgt werden.
Das sind reale Enttäuschungen, die Kinder aktuell erleben. Und vieles
spricht dafür, dass sich die Gesamtlage eher nicht bessert. Die Geschichte
vom gutmütigen alten Rauschebartträger im roten Mantel, der nur das Beste
für sie will und ihnen deswegen Geschenke vorbeibringt, sorgt für so viele
positive Gefühle, dass ich das gerade jetzt absolut nicht verurteilen kann.
Im Gegenteil.
## Wer spielt hier wem was vor?
Und: Der Weihnachtsmann funktioniert auch als Role Model für uns Erwachsene
ganz gut, weil sein ganzes Tun auf das Wohl von Kindern konzentriert ist.
Zugegeben: Auch ich habe Angst vor dem Moment, in dem unsere Tochter
erfährt, dass sie einem Schwindel aufgesessen ist. Ich denke schon, dass
sie enttäuscht sein wird. Ich erinnere mich noch, dass ich, siebenjährig,
die Welt damals als etwas kälter empfunden habe als zuvor, mich dann aber
dazu entschieden habe, noch ein Jahr lang dran zu glauben, weil es so schön
gewesen ist.
Wir leben also mit einer Lüge. Oder? Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so
sicher, wer hier wem etwas vorspielt. Anfang Dezember meinte meine Tochter,
sie wisse nicht, was sie uns zu Weihnachten schenken solle. Ich sagte, sie
müsse uns nichts schenken. „Ihr schenkt mir aber doch auch was“, entgegnete
sie. „Aha?“, sagte ich und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie
grinste bloß, sagte nichts und verschwand in ihrem Zimmer.
24 Dec 2021
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## AUTOREN
Benjamin Weber
## TAGS
Kindererziehung
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