# taz.de -- Umgang mit Alters- und Genderfragen: Alle mal locker machen | |
> Die extravagante Chromosomenanzahl meines Sohnes Willi führt dazu, dass | |
> er frei ist von diskriminierendem Gedankengut. Aber nicht alle schätzen | |
> das. | |
Bild: Oma oder Opa? Willi verehrt sie alle | |
Wir sind eigentlich eine ziemlich normale Familie: Zwei alte, weiße, hetero | |
Eltern ohne Migrationsgeschichte, zwei Kinder, Auto und Reihenhaus mit | |
Huhn. Zu allem Überfluss sind wir auch noch cis und fühlen uns – wenigstens | |
bis jetzt – der Geschlechtsidentität zugehörig, die uns bei der Geburt | |
naheliegenderweise zugewiesen wurde. Für so viel Normalität muss man sich | |
ja echt was schämen, seit [1][die AfD „normal“ sein für sich im Wahlkampf | |
beansprucht hat.] | |
So krass gesellschaftlich gecisst wie mein Mann fühle ich mich zwar nicht, | |
aber das liegt bestimmt nur an meinem Menstruationshintergrund. Meine | |
persönliche mediale Existenzberechtigung verdanke ich aber wohl nur der | |
extravaganten Chromosomenanzahl unseres Sohnes. Willi kann man beim besten | |
Willen nicht als normal bezeichnen. Aber ob Willi dabei „cis“ ist, kann ich | |
nicht beurteilen. | |
Willi scheint sich und Menschen nicht nach männlich oder weiblich zu | |
kategorisieren. Sehr vorbildlich! Auch auf Aufforderung hin ordnet er | |
„Mädchen/Junge“ oder „Mann/Frau“ nicht irgendwelchen Abbildungen zu. In | |
einem Intelligenztest war das mal Aufgabe – und Willi hat bestimmt nicht | |
damit gepunktet, dass er die Zuordnung verweigert hat. Soziale Intelligenz | |
wird eben nicht abgefragt. Ich muss allerdings zugeben, dass Willi die | |
Geschlechter entweder gar nicht zuordnen kann oder es ihn einfach zu wenig | |
interessiert. Ein reflektierter Akt von Gendergerechtigkeit ist es wohl | |
eher nicht. | |
Dass Willi aber überhaupt männlich oder weiblich differenziert, weiß ich | |
nur, weil er die Worte „Oma“ und „Opa“ sprechen kann und in der | |
Öffentlichkeit weißhaarige Menschen gezielt richtig anspricht. Mit | |
„richtig“ meine ich natürlich nur richtig im Sinne der äußerlich | |
sichtbaren, mehrheitlich als weiblich oder männlich gelesenen Merkmale. So | |
viel muss Willi aber nicht labern: Er zeigt einfach auf den älteren Mann | |
mit weißem Haar und schreit begeistert: „Opaaaa!“ | |
Das beweist uns zusätzlich, dass Willi auch frei von | |
altersdiskriminierendem Gedankengut ist. Man könnte natürlich | |
argumentieren, dass Willi frei von einer ganzen Menge Gedankengut ist – und | |
dem hätte ich nichts entgegenzusetzen. Ich sehe es aber trotzdem lieber | |
positiv. Willi verehrt alle irgendwie oma- und opaartigen Wesen, denn seine | |
Großeltern sind seine Idole. Das könnte einerseits daran liegen, dass Willi | |
sonst keine Freunde zum Chillen hat oder aber daran, dass Oma und Opa | |
wirklich endcool sind. | |
Streng genommen diskriminiert Willi natürlich doch – wenn auch positiv: | |
Alte Menschen sind ja nicht aufgrund ihrer Lebensjahre oder ihrer Haarfarbe | |
mehr wert als andere! | |
Wenn Willi aber platinblonde Raspelfrisuren oder graumelierte | |
Barbershopbärte an Hipster*innen als anbetungswürdige Alterserscheinungen | |
fehlinterpretiert, empfinde ich deren entsetzte Reaktionen tatsächlich | |
manchmal als diskriminierend. Aber so manche „echte“ ältere Dame hielt | |
Willis Auszeichnung als Oma auch schon für einen guten Grund ihn zu | |
bepöbeln. Zum Glück ist Willi tolerant. Er scheint sich dann nur zu | |
wundern, warum die Oma bloß eine so garstige Laune hat. | |
Anderen Menschen gegenüber, die wie er eine Behinderung haben, ist Willi | |
auch recht tolerant. Nur wenn einer ebenfalls zu laut schreit, dann nervt | |
ihn das und er schreit zurück. Ich finde übrigens, dieser Vorgang | |
entspricht exakt dem Phänomen von Diskriminierung und Dauerempörung in den | |
asozialen Medien. Die Lösung dafür liegt also eigentlich auf der Hand, wir | |
müssten uns nur alle ein bisschen locker machen. Gegenüber blöden | |
Kommentaren, vergrätzten Omis, Twitterer*innen, Gendernden und natürlich | |
auch gegen Cissexuelle und andere Normalos. Gar nicht so einfach. | |
16 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Birte Müller | |
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