Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Erlebnisse in einem Berliner Wahllokal: „Wir waren alle völlig d…
> Unsere Autorin war bis spät in die Nacht in einem Pankower Wahllokal.
> Stimmenzählen ohne Verpflegung und auf Kinderstühlchen.
Bild: Superwahl am vergangenen Sonntag: Es quietschte an vielen Ecken und Enden
Es ging schon gut los an diesem Wahlsonntag im Pankower Wahlbezirk 3. Vor
unserem Wahllokal in einem Jugendzentrum standen Menschen Schlange. Am
Marathon lag das nicht und auch nicht an Coronamaßnahmen. Denn alles war
wie immer, nur wurde diesmal nicht im Foyer, sondern im großen
Veranstaltungssaal gewählt. Die Stimmung war friedlich.
Nach einer halben Stunde der erste Zwischenfall: Eine alte Dame hatte
offenbar Briefwahl beantragt. „Sie können hier trotzdem wählen, aber dann
brauchen wir Ihren Wahlschein.“ Große Verwirrung. Ob sie nun schon gewählt
habe oder nicht, daran konnte sich die Dame nicht erinnern. Unverrichteter
Dinge musste sie das Wahllokal verlassen.
Einer jungen Erstwählerin erklärte man derweil, in welche der drei
Wahlurnen sie welche Zettel werfen müsse. Ich hatte mir zum Glück alle
Stimmzettel im Internet angesehen und fühlte mich vorbereitet. Anders der
Mann hinter uns, der ursprünglich auch hatte per Brief wählen wollen. Sein
Sohn holte den Schein dann schnell von zu Hause.
Wieder draußen die nächste Überraschung: auch vor dem gegenüberliegenden
Kindergarten eine meterlange Schlange. Ach ja, wegen Corona hatte man ja
die Zahl der Wahllokale erhöht. Im Frühjahr hatte ich mich als Wahlhelferin
gemeldet, im Juli bekam ich per Briefpost eine Bestätigung. Einsatzort:
[1][Briefwahlzentrum in einer Grundschule] um die Ecke, Einsatzbeginn 15
Uhr. Kurz bevor ich losmusste, war der Brief plötzlich weg. Ach egal.
## Kuchen für alle
Spätestens jetzt fragte ich mich zum ersten Mal, wie sich deutlich
schlechter organisierte Menschen als ich das wohl hatten merken können.
Denn eine Erinnerungsmail gab es nicht. Stattdessen am Tag vor der Wahl ein
Corona-Schnelltestset per Post: „Wir bitten Sie eindringlich, diesen am
Wahltag, bevor Sie sich auf den Weg zu Ihrem Einsatzort machen, zu
benutzen.“ Trotz Impfung wohlgemerkt.
Kurz darauf saß ich mit zehn Leuten, „meinem“ Wahlteam, in einem kleinen
Klassenraum. Wir stellten uns mit Vornamen vor. Erst deutlich später
kapierte ich, dass es zwei Teamleiter und eine Schriftführerin gab. Eine
kurze Einführung in die Arbeit war für Neulinge wie mich offenbar nicht
vorgesehen. Auch egal. Die kleinen Schultische waren schon zu einem großen
zusammengeschoben, wir saßen auf Kinderstühlen darum herum.
Um 18 Uhr hatten wir alle Briefe geöffnet, Wahlscheine geprüft und die
Kuverts mit den Stimmzetteln gestapelt. Unterlagen von insgesamt 980
Wählern, [2][wie wir nach dreimaligem Zählen wussten]. Der Teamleiter hatte
Kuchen dabei. Guter Mann. Denn an Verpflegung mangelte es ebenso wie an
Kisten. Die Wahlscheine legten wir in Materialschubladen aus dem
Klassenraum.
## Um 1 Uhr morgens völlig erschöpft
Ab 18 Uhr durften wir die Kuverts mit den Stimmzetteln öffnen und jeweils
den für die Bundestagswahl, die zwei für das Berliner Abgeordnetenhaus, den
für die BVV und den kleinen Zettel für den Volksentscheid auf verschiedene
Stapel legen. Insgesamt knapp 5.000 Stimmzettel.
Gegen 23 Uhr holten wir Getränke vom Späti. Wir waren alle völlig durch.
Weit nach Mitternacht waren wir mit dem Zählen fertig. Vieles hatten wir
mehrfach nachzählen müssen. Denn nicht alle Wähler hatten alles gewählt:
einige nur Bundestag, einige nur BVV. Manche alles. Manche alles ungültig.
Dann noch schnell die Berge von Umschlägen mit den Stimmzetteln versiegeln
und wegbringen. Die Urnen ein Stockwerk tiefer tragen. Das Klassenzimmer
fegen. Die Tische zurückstellen. Jemand drückte uns noch allen ein „Danke
für Ihre Teilnahme“-Briefchen in die Hand. Um 1 Uhr morgens saß ich völlig
erschöpft vor dem heimischen PC, um die ersten Hochrechnungen zu sehen.
Mein Mann machte mir Abendbrot. Trotz allem hatte ich das gute Gefühl, mich
am demokratischen Prozess beteiligt zu haben.
Und jetzt, Tage später, soll mein Wahlbezirk Pankow 3 neu ausgezählt
werden. Ich beneide niemanden um diesen Job.
30 Sep 2021
## LINKS
[1] /Wahlchaos-in-Berlin/!5800755
[2] /Interpretationen-des-Wahlergebnisses/!5800754
## AUTOREN
Gaby Coldewey
## TAGS
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
Abgeordnetenhauswahl 2021
Abgeordnetenhaus
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.