# taz.de -- Rettung vor der Gleichgültigkeit: Von einer, die stehen bleibt | |
> Am Ende unseres Ausflugs stand mitten auf unserem Radweg ein einzelnes | |
> Kalb. Ich wäre gerne weiter gefahren, aber meine Freundin sah das anders. | |
Bild: Manchmal sticht eine aus der Masse heraus | |
Es ist ein schöner Abend. Die Luft ist weich. Die Zeit fließt. Wir sind zu | |
viert auf Rädern unterwegs und schwirren voran auf dem Radweg. Durch den | |
Duft von Grün, entlang am Bach und an eingezäunten Wiesen. Dann ist etwas | |
falsch. Das Bild vor uns stimmt nicht. Da ist ein Kalb auf dem Weg. Es | |
steht nicht hinter dem Zaun auf der Wiese, sondern vor dem Zaun. Klein und | |
weiß. Und allein. Das Gatter hinter ihm ist offen. | |
Wir fahren langsamer. Was macht es hier? Ist seine Herde fort? Ist es | |
vielleicht im hohen Gras eingeschlafen und übersehen worden, als die | |
anderen Kühe abends in den Stall getrieben worden sind? Das Kalb sieht | |
nicht unglücklich aus, es rupft jetzt Gras von der anderen Seite des Zauns. | |
„Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner“, lachen wir. | |
Wir sind an diesem Tag schon viel Rad gefahren. Um uns schwirren Mücken. | |
Eigentlich wollen wir nur nach Hause. Doch meine gute Freundin steigt vom | |
Rad ab. Sie bleibt stehen. Sie ist ein Mensch, der stehenbleibt. Der nicht | |
weiterfährt. Sie mischt sich ein, wenn es das Leben verlangt. | |
„Das kann doch hier nicht einfach so bleiben“, sagt sie. Andere Menschen | |
auf Rädern fahren an uns vorbei, schauen sich nach dem Kalb um und blicken | |
dann wieder nach vorn zu ihrem Ziel. Ich bin müde. Ich würde jetzt auch | |
gern nach Hause fahren, aber ich schaue meine Freundin an und weiß, es geht | |
erst, wenn auch das Kalb zu Hause ist. Es stimmt ja auch. Es kann hier | |
nicht allein umherlaufen auf dem Radweg. Es ist jung und bald ist es Nacht. | |
Jemand muss sich kümmern. | |
Das Kalb hat gelbe Plaketten mit Nummern an den Ohren. Wir nähern uns ihm | |
vorsichtig und überlegen, ob wir es hinter den Zaun zurücktreiben können. | |
„Es ist ein junger Stier“, sagt einer von uns. „Pass auf.“ Ja, es hat | |
kleine Hörnchen auf dem Kopf. Wir halten etwas Abstand. | |
Meine Freundin ruft eine Bekannte an, die viele Bauern im Ort kennt und | |
fragt sie, wem das Kalb gehören könnte. Sie bekommt die Nummer des | |
Ortsvorstehers, der vielleicht weiterhelfen kann. Sie beschreibt ihm, wo | |
wir stehen. Ich schaue sie an, während sie telefoniert. Mich beeindruckt | |
ihre Energie, die sie so spät hat. Alles ist wichtig. Da steht ein Kalb auf | |
dem Weg, man könnte es stehen lassen, weil vielleicht andere kommen. Aber | |
für sie gibt es keine anderen. Der Ortsvorsteher will kommen. Meine | |
Freundin fragt, ob wir warten sollen bis er da ist. „Ja“, sagt er. Wir | |
warten weiter. | |
Das Kalb läuft jetzt zu einer Pfütze und trinkt. Es frisst sehr viel Gras. | |
Es wirkt zufrieden. Dann bewegt es sich weiter. Der Weg macht von hier eine | |
Kurve und führt zu einer schmalen Eisenbahnbrücke, die über Schienen läuft. | |
Das Kalb stapft zur Brücke. Es wartet. Dann setzt es seine Hufe auf die | |
Brücke. Es ist ein besonderes Bild: ein weißes Kalb, allein auf einer | |
Eisenbahnbrücke. | |
Meine Freundin läuft dem Kalb hinterher. Ein weiterer von uns folgt ihr. | |
Wir zwei anderen bleiben auf dem Weg stehen und warten. Die Mücken fangen | |
an zu stechen. Dann endlich fährt ein älterer Mann auf einem Elektrorad auf | |
uns zu. „Sind sie der Ortsvorsteher“, frage ich. „Der bin ich. Wo ist das | |
Kalb?“ Wir zeigen zur Brücke, wo es schon nicht mehr zu sehen ist. „Ich | |
werde mich jetzt dem Tier mal nähern“, sagt der Ortsvorsteher mit wichtiger | |
Stimme. „Und schauen, was auf der Plakette steht.“ Ich denke, dass wir ihm | |
das auch am Telefon hätten sagen können. | |
Dann fährt er über die Brücke zu meiner Freundin. Zusammen mit einem | |
anderen von uns liest der Ortsvorsteher die Ziffer auf der Plakette ab, um | |
damit unter den Bauern zu fragen, wem das Kalb gehört. „Können wir jetzt | |
fahren“, fragt meine Freundin. „Ja“, sagt der Ortsvorsteher. „Aber lass… | |
Sie Ihre Telefonnummer da. Falls die Person, der das Kalb gehört, sich | |
bedanken möchte. Weil Sie das Tier gerettet haben.“ Meine Freundin lächelt. | |
„Ja, ich finde das toll, was Sie gemacht haben, dass Sie sich eingesetzt | |
haben“, sagt der Ortsvorsteher. | |
Wir lachen später: „das Tier ‚gerettet‘“. „Gerettet eher vor Überfr… | |
lacht meine Freundin. Aber der Ortsvorsteher hat ja Recht. Sie hat sich der | |
Sache angenommen. Sie hat sich um das Tier gekümmert. Sie hat es gerettet. | |
Sie hat etwas auf dieser Welt vor Gleichgültigkeit gerettet. | |
13 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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