# taz.de -- Gentrifizierung in Berlin: Wir rücken zusammen | |
> Der fehlende Leerstand ist das größte Problem der Gentrifizierung. Selbst | |
> da, wo man es nicht vermutet – am Stadtrand in Berlin-Spandau. | |
Grell leuchten die bunten Hochhäuser in der Heerstraße Nord, einer | |
Großsiedlung am westlichen Stadtrand Berlins. 22 Stockwerke hoch erheben | |
sie sich, umgeben von mehrgeschossigen 70er-Jahre-Bauten. Mehr als 18.000 | |
Menschen leben in der Siedlung, die im Spandauer Ortsteil Staaken liegt. | |
Ginge es nur nach der Nachfrage, wären es noch deutlich mehr – obwohl die | |
Heerstraße trotz angrenzender Döberitzer Heide nicht unbedingt das ist, was | |
man sich unter einer „Traumlage“ vorstellt. Doch freie Wohnungen sind in | |
Berlin Mangelware. Selbst am Stadtrand sind sie nicht mehr so ohne Weiteres | |
zu ergattern. | |
„Die vermittelbaren Wohnungen, die wir dort haben, sind weitestgehend | |
vermietet“, sagt Josiette Honnef von der Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. | |
Der Gesellschaft gehört rund ein Drittel der etwa 8.000 Wohnungen in der | |
Heerstraße Nord. Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum werde immer | |
größer. In den letzten drei Jahren habe es konstant mehr Bewerber_innen als | |
zu vermietende Wohnungen gegeben, sagt Honnef. Tatsächlich fand sich zum | |
Beispiel im Dezember für den gesamten Bezirk Spandau kein einziges | |
Wohnungsangebot auf der Gewobag-Website – Mitte März sind es gerade mal | |
neun. | |
## Unbewegt | |
Anfang der 2000er Jahre sah das noch ganz anders aus. Damals standen in der | |
Heerstraße Nord 18 Prozent der Wohnungen leer. Doch während die Mieten | |
überall in Berlin enorm stiegen, schrumpfte die Zahl leer stehender | |
Wohnungen an den Stadträndern zusehends. Im Jahr 2012 waren es für das | |
Gebiet Heerstraße Nord nur noch etwa 3 Prozent – und selbst das scheint aus | |
heutiger Sicht reichlich. | |
Der Mangel an leer stehenden Wohnungen ist stadtweit ein Problem. 2011 | |
waren es in Berlin immerhin noch 3,5 Prozent. Die Zahl hat sich bis zum | |
Jahr 2015 etwa halbiert. Die Großbausiedlung in Spandau ist keine Ausnahme, | |
sondern die Regel: Auch im Ortsteil Hellersdorf am östlichen Stadtrand sank | |
der Leerstand innerhalb von zehn Jahren von 12,6 Prozent auf gerade noch | |
1,4 Prozent im Jahr 2015. Das liegt sogar knapp unter dem stadtweiten | |
Durchschnitt. | |
Die Wohnungswirtschaft spricht bereits ab einem Leerstand von 2 bis 3 | |
Prozent von Vollvermietung. Dies ist die Schwelle, an der noch ausreichend | |
Mobilität auf dem Wohnungsmarkt möglich ist. Wer umziehen möchte, findet | |
eine Wohnung und gibt dadurch seine wieder frei. Auch Sanierungsarbeiten, | |
die Wohnungen zwischenzeitlich dem Markt entziehen, stellen mit einem | |
solchen Puffer kein Problem dar. Ist dieser jedoch nicht vorhanden, kommt | |
die Bewegung innerhalb der Stadt zum Erliegen. | |
## Überbelegt | |
Die Konsequenz: Man rückt zusammen. Der Wohnraum muss reichen, egal wie eng | |
es ist. Dabei spielt keine Rolle, ob inzwischen Nachwuchs da ist. | |
Paradoxerweise zwingen die steigenden Mieten Menschen aber auch, in zu | |
großen Wohnungen zu bleiben. Ein Witwer etwa würde gern in eine kleinere | |
Wohnung ziehen, seine große würde frei werden. Doch eine Einzimmerwohnung | |
zum heutigen Mietniveau wäre viel teurer als seine alte Wohnung. Zu solchen | |
Konditionen kommt ein Umzug kaum infrage. | |
Immer schlechtere Wohnlagen und Überbelegung: Das ist die nächste Stufe der | |
Gentrifizierung. Sie zeichnet sich nicht mehr nur dadurch aus, dass die | |
Verdrängten ihre Kieze verlassen müssen. „Innere Verdrängung“, so nennt … | |
Stadtforscher Sigmar Gude das Phänomen deswegen; „Verdrängung aus dem | |
Lebensstandard“, sagt der Stadtsoziologe und Gentrifizierungskritiker | |
Andrej Holm dazu. Wie schwerwiegend die Folgen der Gentrifizierung | |
tatsächlich sind – das wird erst jetzt so richtig deutlich. | |
## Malern lohnt nicht, sie wollen doch umziehen | |
Die Al Soukiehs aus Kreuzberg sind seit sechs Jahren auf der Suche nach | |
einer neuen Bleibe. Doch es gibt kaum Wohnungen, die groß genug wären für | |
sie – und auch erschwinglich. Die sechsköpfige Familie muss bleiben, wo sie | |
ist: in beengten Verhältnissen. | |
Es dampft, als Darine Al Soukieh heißen Tee aus einer kleinen silbernen | |
Kanne in die Tassen auf dem Wohnzimmertisch gießt. „Ein viertes Zimmer“, | |
sagt die 37-jährige Frau mit dem rundlichen Gesicht. „Dann wäre alles gut.�… | |
Es müsse nicht mal ein großes Zimmer sein, sagt sie und streicht ihr | |
schwarzes Kopftuch glatt. Die Wohnung der Al Soukiehs im Berliner Stadtteil | |
Kreuzberg ist karg eingerichtet, das Mobiliar auf das Nötigste reduziert. | |
Das geräumige Wohnzimmer ist das Herz der Wohnung, in deren drei Zimmern | |
Darine Al Soukieh und ihr Mann Ismael mit ihren vier Kindern wohnen – auf | |
gerade mal 70 Quadratmetern. | |
Dabei stünde den Al Soukiehs viel mehr zu. Ismael Al Soukieh, ein groß | |
gewachsener Mann mit leichtem Bauchansatz und dunklen Haaren, durch die | |
sich graue Strähnen ziehen, sitzt auf dem Sofa. Aus gesundheitlichen | |
Gründen kann der 51-Jährige seit rund zehn Jahren nicht mehr in seinem Job | |
auf dem Bau arbeiten, die Familie lebt von Hartz IV. Beim Jobcenter heißt | |
es, für einen Sechspersonenhaushalt seien maximal 109 Quadratmeter | |
angemessen – die Familie liegt mit ihrer Wohnung unterhalb der maximalen | |
Wohnfläche für einen Dreipersonenhaushalt. | |
## Die weißen Wände sind nun grau | |
Es geht aber nicht darum, was den Al Soukiehs zusteht. Seit etwa sechs | |
Jahren sind Darine Al Soukieh und ihr Mann auf der Suche nach einer neuen | |
Wohnung – vergebens. Es gibt kaum Wohnungen in der benötigten Größe, die | |
das Ehepaar sich leisten kann. Und die, die es gibt, sind umkämpft. Denn in | |
keiner anderen deutschen Großstadt sind die Mieten im vergangenen Jahrzehnt | |
so extrem gestiegen wie in Berlin. Genau gegensätzlich verhält es sich mit | |
der Entwicklung des Leerstands: Nicht nur günstige Wohnungen sind | |
Mangelware, es gibt überhaupt kaum noch freie Wohnraum. Gerade mal rund 1,7 | |
Prozent beträgt die Leerstandsquote in Berlin, so niedrig wie seit 20 | |
Jahren nicht mehr. Für einen entspannten Wohnungsmarkt setzen ExpertInnen | |
eine Untergrenze von 3 Prozent an. | |
1,7 Prozent – eine Zahl, die eines deutlich macht: Die Wohnungsnot ist in | |
Berlin kein Problem, mit dem nur gering verdienende oder vom Amt abhängige | |
Haushalte konfrontiert sind. Es betrifft Familien, in denen beide Eltern | |
ohne Job sind, ebenso wie solche, in denen die Erwachsenen studiert haben | |
und arbeiten gehen. Es betrifft die Al Soukiehs in Kreuzberg ebenso wie die | |
Lindermeirs in Neukölln. | |
Vom Wohnzimmerfenster der Al Soukiehs sieht man mit Einkäufen bepackte | |
Menschen aus der Markthalle am Kreuzberger Marheinekeplatz kommen. Gelegen | |
zwischen Alnatura-Laden und Biocompany, duftet es in der 1892 eröffneten | |
Kaufhalle nach Auberginen in Olivenöl und gebratenem Fleisch, alles zu | |
ambitionierten Preisen. Im Obergeschoss legen junge Leute mit Hornbrillen | |
und Jutebeuteln Seitan-Nuggets auf das Kassenband eines veganen | |
Supermarkts. Gegenüber dieser Szenerie wirkt die Wohnung der Al Soukiehs | |
direkt um die Ecke wie ein Besuch in der Vergangenheit: als die | |
Durchschnittsmieten in der Gegend noch nicht bei 10 bis 11 Euro pro | |
Quadratmeter nettokalt lagen. | |
Im Laufe der Jahre sind die weiß gestrichenen Wände im Wohnzimmer grau | |
geworden. Seit 17 Jahren wohnt das Ehepaar Al Soukieh hier. Jetzt sitzen | |
die beiden in der Sofaecke am Fenster, Darine Al Soukieh blickt | |
nachdenklich auf die Kinderkritzeleien an den Wänden. Vor allem neben dem | |
Schreibtisch in der Ecke sieht es aus, als machten die Kinder ihre | |
Hausaufgaben gern mal an der Wand statt auf einem Blatt Papier. Von den | |
Türen blättert an einigen Stellen der Lack. „Jedes Jahr überlegen wir, zu | |
renovieren“, sagt die Frau mit den freundlichen Augen und dem | |
zurückhaltenden Lächeln. „Aber dann denken wir: Wir wollen doch umziehen.“ | |
„300 D-Mark warm habe ich beim Einzug für die Miete bezahlt“, sagt Ismael | |
Al Soukieh. Inzwischen sind es 615 Euro – ihre Warmmiete liegt damit mehr | |
als 2 Euro unter der durchschnittlichen Nettokaltmiete in der Gegend. Doch | |
selbst der beste Quadratmeterpreis hilft nichts, wenn die Wohnung zu klein | |
ist. Die vier Kinder der Al Soukiehs schlafen alle im selben Raum – vom | |
Jüngsten, dem achtjährigen Sohn Ali, bis zur 17-jährigen Rana. Weniger als | |
15 Quadratmeter hat das schlauchförmige Kinderzimmer. Auf der Schrankwand | |
stapeln sich leere Koffer. Rana und ihre 13-jährige Schwester Rima liegen | |
in ihrem Hochbett, stellen sich schlafend. „Sie sind schüchtern“, lacht die | |
Mutter. Ali und der 11-jährige Tarik müssen sich ein Bett teilen. Doch im | |
Moment ist das Bett leer – Tarik ist bei der Ergotherapie, der Jüngste | |
sitzt brav neben den Eltern im Wohnzimmer und lächelt. Kein böses Wort | |
kommt über seine Lippen: Sich mit dem Bruder ein Bett zu teilen sei | |
„schön“. Ein größeres Zuhause wünscht er sich trotzdem: „Weil das sch… | |
wäre.“ | |
Fast jeden Tag durchsucht Darine Al Soukieh die Wohnungsangebote auf den | |
einschlägigen Internetportalen. „Aber manchmal kann ich nicht mehr“, sagt | |
sie. Sie tippt und wischt ein paarmal auf ihrem Smartphone, dann schiebt | |
sie das Telefon über den Tisch. „Kreuzberg ist zu teuer“, sagt sie. Die | |
Wohnungsangebote sprechen für sich: Eine Zweizimmerwohnung direkt um die | |
Ecke, knapp 97 Quadratmeter für rund 1.260 Euro kalt. Oder eine Wohnung am | |
nahe gelegenen Landwehrkanal: gerade mal 69 Quadratmeter, zwei Zimmer, für | |
1.730 Euro kalt. | |
Am nächsten Tag wollen sie zu einer Besichtigung im angrenzenden Stadtteil | |
Schöneberg. Es geht um eine Wohnung im Besitz der Gewobag, eines der sechs | |
kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin. Entsprechend günstig ist die | |
Miete – vier Zimmer auf 105 Quadratmeter, für etwa 718 Euro kalt. Er sei | |
schon zu mehreren solcher Termine gegangen, sagt Ismael Al Soukieh. „Mehr | |
als hundert Leute waren da, das war verrückt“, erinnert er sich. Immer und | |
immer wieder habe er seine Unterlagen eingereicht, aber nie sei etwas | |
zurückgekommen. So sehr sie ihren Kiez lieben, die Al Soukies suchen auch | |
in Tempelhof oder in den weiter entfernten Bezirken Rudow und Spandau. Doch | |
auch dort gibt es kaum freie Wohnungen. | |
## Die Nachbarschaft: Kreuzberg 61 | |
„Ich kenne hier jede Straße, jede Ecke“, sagt Ismael Al Soukieh. Er kam in | |
den 1990er Jahren als Bürgerkriegsflüchtling aus dem Südlibanon nach | |
Deutschland, seit 1998 hat er die deutsche Staatsbürgerschaft. Zunächst | |
lebte er in der Stadt Werl in Nordrhein-Westphalen, knapp 40 Kilometer | |
östlich von Dortmund. Vor 20 Jahren kam er für die Arbeit auf einer | |
Baustelle nach Berlin, seitdem lebt er im Kiez. | |
„Es geht mir vor allem um Rana“, sagt Darine Al Soukieh. „Unsere Tochter | |
ist jetzt 17 und muss sich immer noch ein Zimmer mit ihren drei | |
Geschwistern teilen.“ Rana geht in die zehnte Klasse, sie will Abitur | |
machen. Doch die Ruhe zum Lernen fehlt zu Hause: Die Kinder machen ihre | |
Hausaufgaben am Esstisch im Wohnzimmer, wo der Fernseher läuft, auf dem | |
Sofa gequatscht wird, die Geschwister streiten. Oder auf dem Bett. | |
Besonders im Winter sind die Geschwister am Nachmittag meist zu Hause. Im | |
Sommer ist alles ein wenig einfacher: Die Jungs kicken dann oft auf dem | |
Fußballplatz um die Ecke, auch ein Spielplatz liegt direkt vor dem Haus. | |
Ismael Al Soukiehs Blick wandert durch das Wohnzimmer, vorbei an der | |
Schrankwand mit dem Fernseher und der Vitrine mit den | |
Porzellan-Leuchttürmen. Sonst gibt es wenig Schmückendes an den Wänden, die | |
Einrichtung ist auf das Nötigste beschränkt: Sofaecke, Schrankwand, Tisch | |
und Eckbänke, ein kleiner Schreibtisch in der Ecke. „Wenn etwas kaputt ist, | |
schmeiße ich es sofort weg“, sagt Ismael Al Soukieh. | |
## Der alte Mietvertrag | |
Er habe mal die Hausverwaltung gefragt, ob sie die Wohnung tauschen | |
könnten. Damals hätte es gerade mehrere freie Wohnungen im Haus gegeben, | |
größere als die der Al Soukiehs. Doch aus dem Plan wurde nichts. „Die sind | |
froh, wenn wir ausziehen“, sagt er. Dass die Miete der Al Soukiehs so | |
günstig ist, liegt an ihrem alten Mietvertrag – bei Neuvermietung könnte | |
die Hausverwaltung deutlich mehr Geld verlangen. So wie bei der | |
4-Zimmer-Wohnung im Haus, auf die Ismael Al Soukieh ein Auge geworfen | |
hatte. Etwa 800 Euro zahlte die Nachbarin, die dort wohnte. Doch nach ihrem | |
Auszug verlangte die Hausverwaltung dann mehr, als die Al Soukiehs sich | |
leisten können. Dabei könnten sie durchaus mehr aufbringen, als sie | |
momentan zahlen. Bis zu 924 Euro bewilligt ihnen das Amt. | |
Erst einmal bleibt es eng bei den Al Soukiehs. „Wir haben aus Spaß schon | |
mal überlegt, noch eine Wand einzuziehen“, lacht Darine Al Soukieh. „Aber | |
dann wäre vom Wohnzimmer ja nichts mehr übrig.“ So wenig Mut die Lage auf | |
dem Wohnungsmarkt auch macht – aufgeben will die Familie nicht. „Was soll | |
ich machen“, fragt der Vater und zuckt die Achseln. „Soll ich sagen, wir | |
packen unsere Sachen und gehen auf die Straße?“ Erschrocken blickt sein | |
Sohn Ali ihn an. „Nein“, sagt er. „Auf die Straße gehen ist schlimm.“ | |
## Alles nach oben stapeln | |
Familie Lindermeir wohnt in Neukölln zu fünft: 81 Quadratmeter in | |
zweieinhalb Zimmern. Das ist verdammt eng. Es geht nur, weil jeder | |
Zentimeter als Stauraum genutzt wird. | |
Ortswechsel. Der Neuköllner Weichselkiez liegt weniger als drei Kilometer | |
Luftlinie vom Zuhause der Al Soukiehs entfernt. Hier wohnt Familie | |
Lindermeir. Man schiebt sich an dem Vorhang vorbei, der die kalte | |
Winterluft draußen halten soll, und steht mitten drin. Die Augen huschen | |
nach links, nach rechts, nach oben. Überall gibt es etwas zu sehen, etwas | |
zu entdecken. Rucksäcke, Bobbycars und Kinderspielzeugwagen hängen von oben | |
in den Raum wie moderne Kunstinstallationen, befestigt an einer | |
Gitterkonstruktion unter der hohen Decke. Die Jacken hängen auf Kopfhöhe, | |
verstaut an einer selbstgebauten Garderobe, die gleichzeitig als | |
Raumtrenner fungiert. Jeder Zentimeter Wand, so scheint es, muss | |
gleichzeitig Stauraum sein. | |
Eva und Andreas Lindermeir sind nicht etwa passionierte Sammler, die ihre | |
Schätze unterbringen müssen. Sie sind die Eltern einer jungen | |
Mittelklassefamilie im Berliner Innenstadtbezirk Neukölln. Und sie sind ein | |
weiteres Beispiel dafür, wohin die Gentrifizierung die Stadt führt. Denn | |
Lindermeirs wohnen zu fünft in zweieinhalb Zimmern, auf 81 Quadratmetern. | |
In verrückten Momenten träumen sie von einer 120-Quadratmeter-Wohnung | |
irgendwo im Kiez. In der Realität blieb ihnen nichts anderes übrig, als | |
sich – vor allem räumlich – mit ihrer Wohnung zu arrangieren. Denn wie bei | |
den Al Soukiehs ist ihre Suche nach einer bezahlbaren und gleichzeitig | |
angemessen großen Wohnung bisher erfolglos. | |
## Über Möbel klettern | |
Das Paar zieht im März 2008 in die Wohnung im Weichselkiez. Es ist eine | |
schöne Gegend mit vielen der so beliebten Berliner Altbauten, zahlreichen | |
Cafés und Spielplätzen und dem Landwehrkanal direkt vor der Tür. Eva | |
Lindermeir ist gerade das erste Mal schwanger. 81 Quadratmeter, schöne, | |
große Altbauräume – die Wohnung ist wie gemacht für die werdende Familie. | |
Jetzt sitzen Eva Lindermeir und ihr Mann Andreas an dem großen runden Tisch | |
in der einen Ecke der Küche. Draußen vor dem Fenster scheint eine | |
Straßenlaterne durch die kalte Winternacht, drinnen dampft es aus den | |
Kaffeetassen. Die hochgewachsene, schlanke Frau mit den kinnlangen Haaren | |
und ihr Mann sind Pragmatiker. Alles lässt sich irgendwie passend machen. | |
Eva Lindermeir klettert über die Stühle am Tisch, um einen Teller mit | |
Keksen zu holen. Während die Eltern erzählen, läuft ihr jüngstes Kind, der | |
zweijährige Sohn Tommy, durch das Zimmer, stibitzt einen Keks nach dem | |
anderen. | |
„Gefühlt platzt hier alles aus den Nähten“, sagt seine Mutter. Fünf | |
Personen auf zweieinhalb Zimmer – „eigentlich zweieinviertel“, sagt Andre… | |
Lindermeir. Denn zu dritt sind sie längst nicht mehr: Zwei Jahre nach dem | |
inzwischen achtjährigen Frank kam Nona zur Welt, im Sommer 2014 dann Tommy. | |
Das kleinste Zimmer der Wohnung ist das für Berliner Altbauten typische | |
„Dienstmädchenzimmer“. Es hat gerade mal sechs Quadratmeter. Dort hat | |
Frank, der von allen Fränky genannt wird, sein Hochbett. Darunter steht das | |
ebenfalls leicht erhöhte Kinderbett von Tommy. Viel mehr als diese beiden | |
Betten haben in dem Kämmerchen kaum Platz. Durch die Hochbetten gebe es | |
etwas mehr Stauraum, erzählt der Vater. Andreas Lindermeir ist ein ruhiger | |
Typ mit schulterlangen Haaren und grau meliertem Bart. Er spricht leise und | |
überlegt, dabei schaut er immer wieder seine Frau an. | |
Als die Lindermeirs einziehen, zahlen sie knapp 383 Euro kalt im Monat. | |
Seitdem wurde die Miete mehrfach erhöht, zuletzt zum ersten Januar 2017. | |
„Zum Glück haben wir nur moderate Erhöhungen bekommen“, sagt Eva | |
Lindermeir. Es habe keine umfassenden Modernisierungsarbeiten gegeben, das | |
Gebäude sei nur teilgedämmt worden. Ganz anders als bei anderen Gebäuden in | |
der Nachbarschaft. Das Haus gehört zwei Schwestern, ist also nicht im | |
Besitz eines großen Immobilieninvestors. „Moderate Erhöhungen“, das heißt | |
für die Lindermeirs konkret, dass sie seit dem 1. Januar 2017 612,58 Euro | |
kalt für ihre Wohnung zahlen sollen. Ein allmählicher Anstieg von knapp 230 | |
Euro über nicht ganz neun Jahre. Und ganz nebenbei liegt die | |
Quadratmetermiete mit 7,52 Euro kalt inzwischen auf den Cent genau an der | |
Obergrenze des Mietspiegels. | |
## Der Kleiderschrank unter dem Bett | |
„Im Vergleich mit den Neuvermietungen ist das ja noch im Rahmen“, sagt Eva | |
Lindermeir. „Im Nachbarhaus wurde die Miete auf einen Schlag um 180 Euro | |
erhöht.“ Doch so langsam sei auch ihre Schmerzgrenze erreicht. Deswegen | |
hätten sie bei der letzten Mieterhöhung erstmals nicht sofort | |
unterschrieben. „Wir arbeiten beide nicht Vollzeit“, sagt Andreas | |
Lindermeir, der als Koch auf einer 90-Prozent-Stelle arbeitet. Eva | |
Lindermeir ist Lehrerin an einer Berufsschule für Maler und Lackierer, sie | |
unterrichtet 15 Stunden pro Woche. Dazu kommt die Vorbereitungszeit. | |
Im Laufe der Jahre hätten sie sich immer mal wieder nach Alternativen zu | |
ihrer Wohnung umgesehen. „Aber alles hätte eine Verschlechterung bedeutet“, | |
sagt Andreas Lindermeir. Und es ist eng. Neben dem Zimmer der Jungs und der | |
Küche gibt es noch das Wohnzimmer und ein Durchgangszimmer. In diesem | |
stehen sogar gleich zwei Hochbetten: Hier schlafen die Eltern und die | |
sechsjährige Nona. Wie in den beiden Fluren hängen auch hier die Wände | |
voller selbst gebauter Konstruktionen, auf denen die Habseligkeiten der | |
Familie untergebracht sind. Der Raum unter dem Hochbett der Eltern dient | |
als Mischung aus Kleiderschrank, Bücherregal und Abstellkammer, an Nonas | |
Hochbett sind Stricke und Seile zum Klettern und Spielen befestigt. Das | |
Wohnzimmer ist der einzige Raum in der Wohnung, der nicht bis in den | |
letzten Winkel zugebaut ist. Es ist auch das einzige Zimmer, das viel Sonne | |
abbekommt. Hier ist der Ort zum Sitzen, Reden, für Gemütlichkeit. | |
„Wir müssen die Höhen ausnutzen; Dinge und auch uns selbst nach oben | |
stapeln“, sagt Andreas Lindermeir. Selbst der Kühlschrank steht auf der | |
Küchentheke. „Dieses ganze Umräumen hat mir am Anfang den letzten Nerv | |
geraubt“, sagt Eva Lindermeir. „Immer, wenn ich mich gerade daran gewöhnt | |
hatte, stand wieder alles woanders.“ Am Ende seien es aber genau diese | |
kleinen Umbauten gewesen, die das Wohnen auf so wenig Raum erträglich | |
gemacht hätten. Hier mal ein Regal und da mal ein Treppchen – anders sei es | |
nicht gegangen. Die meisten Basteleien hat Andreas Lindermeir selbst | |
gemacht. | |
Tommy wird müde. Er klettert auf den Schoß seiner Mutter, kuschelt sich an. | |
Seine beiden älteren Geschwister sind nicht zu Hause, wie so oft. Auch das | |
ist eine Art, mit dem Mangel an Platz umzugehen. „Wir suchen uns unsere | |
Rückzugsräume woanders“, sagt Andreas Lindermeir. „Ja, du zum Beispiel auf | |
dem Sportplatz“, sagt seine Frau, „oder bei der Arbeit in der | |
Mitarbeitendenvertretung.“ Zweimal die Woche bietet ihr Mann | |
Fußballtraining an, am Wochenende ist er bei Turnieren. Sie selbst fährt | |
ein- oder zweimal pro Woche nach Teltow, ein Städtchen im Süden Berlins. | |
Dort hat Eva Lindermeir eine Reitbeteiligung. „Es ist ein super Gefühl, mal | |
draußen zu sein und mit dem Pferd durch die Maisfelder zu reiten“, sagt | |
sie. Und auch die Kinder werden mehrmals die Woche „ausgelagert“: Nona geht | |
zweimal die Woche zum Turnen, Frank einmal zum Taekwondo und ein- oder | |
zweimal wöchentlich zum Fußballtraining mit Papa. Weil sein Vater der | |
Trainer ist, muss der Sohn keinen Beitrag zahlen – eine finanzielle | |
Entlastung für die Familie. „Durch all diese Dinge sind wir nicht darauf | |
angewiesen, ständig hier in der Wohnung zu sein“, sagt Andreas Lindermeir. | |
## Freunde machen die Wohnung erträglich | |
Dabei mögen Lindermeirs ihre Wohnung. Sie mögen den Kiez, die Nachbarn, die | |
kurzen Wege. Die Kinder können zur Schule laufen, die Kita ist um die Ecke, | |
und viele befreundete Paare mit Kindern wohnen nur wenige Minuten entfernt. | |
„Wir sind hier im Kiez sozial eingebunden“, sagt Eva Lindermeir. Es sind | |
auch diese Netzwerke, die das Leben in der kleinen Wohnung erträglich | |
machen. Wenn die Kinder nach der Schule nicht beim Sport sind, sind sie oft | |
bei FreundInnen. „Manchmal haben wir dann auch fünf oder sechs Kinder | |
hier“, sagt Andreas Lindermeir. „Die Familie von Franks Freund wohnt zu | |
viert in zwei Zimmern“, erzählt Eva Lindermeir. „Der kommt zu uns und sagt, | |
hier sei viel Platz.“ | |
Lindermeirs kennen die Leute in der Nachbarschaft gut. Eva Lindermeir zählt | |
auf: Eine andere befreundete Familie hat ebenfalls zweieinhalb Zimmer für | |
fünf Personen. Gegenüber wohnen sie sogar zu acht in genau so vielen | |
Räumen. Und so weiter. | |
„Seit vier oder fünf Jahren sagen wir: Noch maximal ein Jahr, bis wir aufs | |
Land ziehen“, sagt Eva Lindermeir und zuckt die Achseln. Sie hätten sogar | |
mal auf ein Häuschen in Brandenburg geboten. „Es war aber doch sehr | |
runtergekommen“, sagt sie. „Inzwischen bin ich ganz froh, dass wir den | |
Zuschlag damals nicht bekommen haben.“ | |
Einmal dachten sie, sie halten es nicht mehr aus. Die Enge. Keine | |
Privatsphäre. Das permanente Aufeinanderhocken. „Dann haben wir uns einen | |
VW-Bus gekauft“, sagt Eva Lindermeir und lacht auf. „Das gab uns das | |
Gefühl, frei zu sein, reisen zu können.“ Raus, wann immer man will, wohin | |
auch immer man will. Wie Aufatmen fühlte sich dieser Gedanke an. „Besser, | |
als sich zu verschulden, um eine Wohnung zu kaufen“, schiebt Andreas | |
Lindermeir nach. | |
Der Stresstest werde noch kommen, sind sich die Eltern sicher. Wenn der | |
Älteste elf oder zwölf Jahre alt wird. „Momentan hat er sein Hochbett in | |
dem kleinen Zimmer und ist damit glücklich. Aber wie lange noch?“, fragt | |
Andreas Lindermeir und verzieht die Mundwinkel. Auch wie es mit der Schule | |
weitergeht, wenn etwa die Hausaufgaben komplexer werden, fragen sich die | |
Eltern. Frank und Nona machen ihre Schularbeiten gemeinsam an dem roten | |
Tischchen im Wohnzimmer, eigene Arbeitsplätze in einem separaten Zimmer | |
haben sie nicht. Die Familie hat Zeiten eingeteilt, in denen im Wohnzimmer | |
Ruhe herrscht – wer keine Hausaufgaben zu machen hat, kann lesen oder | |
basteln. | |
## Arbeiten zwischen den Betten | |
„Richtig vorbereiten kann ich meinen Unterricht zu Hause nicht“, sagt auch | |
Eva Lindermeir. Ihr Schreibtisch steht ist im Durchgangszimmer, eingeklemmt | |
zwischen dem elterlichen Hochbett und dem von Tochter Nona. „Wenn sie | |
eingeschlafen ist, kann ich schon noch mal Licht anmachen“, sagt sie. | |
Außerdem habe sie noch die zwei freien Tage in der Woche, an denen sie die | |
Schul- und Kitazeiten für ihre Unterrichtsvorbereitung nutzen kann. Einen | |
Großteil mache sie aber in der Schule. „Aber wie das wird, wenn ich die | |
Stunden mal wieder erhöhe?“ Die Frage bleibt vorerst unbeantwortet. | |
Die Lindermeirs mussten sich arrangieren. Irgendwann wird es nicht mehr | |
gehen – weil die Kinder zu groß für die improvisierten Lösungen werden, | |
oder aber, weil sich die Familie auch ihre kleine Wohnung nicht mehr | |
leisten kann. Etwa 2.500 Euro monatlich hat die Familie zur Verfügung. Mit | |
der neuesten Mieterhöhung liegen sie warm bei etwa 815 Euro im Monat. Damit | |
geben sie schon jetzt fast ein Drittel ihres Einkommens allein für die | |
Miete aus. „Vielleicht kann man mit den Vermieterinnen ja irgendwas | |
aushandeln“, überlegt Eva Lindermeir. „Aber warum sollten sie uns was | |
erlassen“, fragt Andreas Lindermeir. „Sie bekommen die Wohnung doch auf | |
jeden Fall zu dem Preis los.“ Das Paar hat ein gutes Verhältnis zu den | |
Vermieterinnen, und das soll auch so bleiben. „Wir wollen unbedingt in der | |
Wohnung bleiben.“ | |
## „Wer es sich leisten kann, bleibt“ | |
In Berlin herrscht eine „harte Wohnungsnot“, sagt Sigmar Gude. Der | |
Soziologe über zu wenig Leerstand, zu volle Wohnungen und rot-rot-grüne | |
Pläne. | |
taz.de: Herr Gude, in der Berliner Innenstadt bezahlbaren Wohnraum zu | |
finden, ist inzwischen fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aber was wird denn | |
aus den „Weggentrifizierten“ – ziehen die alle in Großsiedlungen am | |
Stadtrand? | |
Sigmar Gude: Man hat ja anfangs erwartet, dass die Ärmeren aus der | |
Innenstadt dorthin verdrängt werden, wo es preiswert ist – also etwa an den | |
Stadtrand. Im Zuge der Aufwertungsprozesse und ständig steigender Mieten | |
hat sich die Situation aber im gesamten Stadtgebiet deutlich verschärft. | |
Wir haben erstmals 2011 in unseren Untersuchungen festgestellt, dass es | |
selbst in den Außenbezirken nicht mehr viel Leerstand gibt. | |
Aber in Gegenden wie Marzahn-Hellersdorf oder Teilen von Spandau sind die | |
Mieten doch immer noch viel niedriger als in der Innenstadt. | |
Das ist richtig. Das liegt aber nicht daran, dass es dort noch freie | |
Wohnungen gibt. Die Wohnungen dort gehören zu einem Großteil den | |
Wohnungsbaugesellschaften, und die haben ein ganz anderes System zur | |
Mietfestlegung. 2012 erzählte mir der Vertreter einer großen | |
Wohnungsbaugesellschaft stolz, sie hätten in Treptow Wohnungen für 4,70 | |
Euro pro Quadratmeter kalt. Aber als ich fragte, ob sie denn auch freie | |
Wohnungen hätten, musste er verneinen. Der Anschein, „da draußen“ gäbe es | |
etwas, weil die Miete billig ist, ist falsch. | |
Heißt das, dass die ganz Armen aus der Innenstadt schon in die Platten am | |
Stadtrand gezogen sind? | |
Ein Teil der Wohnungen dort wurden sicher aufgefüllt von Menschen, die aus | |
der Innenstadt weg- oder aber von außerhalb nach Berlin gezogen sind. Aber | |
dieses Klischee, dass es am Stadtrand bald erste „Banlieues“ gibt, stimmt | |
so nicht. | |
Wieso nicht? | |
Zwar sind die Wohnungsbaugesellschaften gegenüber dem Senat verpflichtet, | |
zu einem gewissen Prozentsatz an Geringverdiener zu vermieten. Aber in | |
Berlin ist es relativ einfach, einen Wohnberechtigungsschein zu bekommen. | |
Das heißt, es gibt auch Selbstzahler mit WBS? | |
Ja. Die Vermieter können aus einem großen Topf von Bewerbern wählen, | |
darunter sind auch Selbstzahler. Das ist auch gut, eine vernünftig | |
gemischte Siedlung ist ja sinnvoll. Doch für die Ärmsten der Armen ist am | |
Stadtrand kein Platz mehr. Das sieht man schon daran, dass auch in den | |
Großsiedlungen etwa in Spandau oder in Marzahn-Hellersdorf der Anteil der | |
Hartz-IV-Bezieher weitestgehend im städtischen Durchschnitt liegt. | |
Okay, der Stadtrand ist also dicht. Wohin ziehen die Leute denn dann? | |
Die Leute ziehen gar nicht um – weil sie nichts mehr finden. Wer es sich | |
irgendwie leisten kann, bleibt in seiner Wohnung, selbst wenn er mit einer | |
unangenehmen Mieterhöhung konfrontiert ist. Die größte Gruppe der | |
Wohnungssuchenden sind die Leute, die neu in die Stadt kommen. Dadurch wird | |
der Wohnungsmarkt noch enger, der Konkurrenzkampf in der gesamten Stadt | |
noch größer. Wer wirklich umziehen muss und finanziell nicht mithalten | |
kann, muss dann notgedrungen in schlechtere Bestände ausweichen. | |
Was heißt das konkret? | |
Die Leute bleiben in ihren Quartieren, ziehen aber zum Beispiel in | |
Wohnungen an lauten, viel befahrenen Straßen. Oder in dunkle | |
Erdgeschosswohnungen im Hinterhof. In solchen Lagen sind die Mieten zwar | |
gar nicht besonders niedrig – für die gegebene Wohnqualität sind sie sogar | |
relativ hoch. Aber der Andrang von Menschen mit höheren Einkommen ist hier | |
nicht so groß. Und wir haben noch ein anderes Problem identifiziert: | |
Überbelegung. Also eine Wohnsituation, in der es weniger Wohnräume als | |
Haushaltsmitglieder gibt. | |
Man rückt also zusammen? | |
Ja. Jeder braucht eine Wohnung, und wenn es keine bezahlbare Wohnung gibt, | |
die groß genug ist, muss es eben auch so gehen. Besonders Familien, die | |
Hartz IV beziehen, sind davon betroffen. Uns liegen Zahlen vor, nach denen | |
in Berlin etwa 30.000 Kinder in gravierend überbelegten Wohnungen leben. | |
Das heißt, mindestens zwei Zimmer weniger als Personen. | |
Weil es keine andere Möglichkeit gibt? | |
Ja. Die Quadratmeterzahl, die ein Hartz-IV-Empfänger real durchschnittlich | |
zur Verfügung hat, ist zwischen 2006 und 2014 nochmals um zwei gesunken – | |
und lag damit bei 28 Quadratmeter pro Person, neueste Zahlen zeigen, dass | |
es inzwischen sogar noch weniger sind. Im Berliner Durchschnitt sind es | |
dagegen 39 Quadratmeter. | |
Die Leute würden also gern umziehen, können aber nicht. | |
Richtig. Und da geht es nicht nur um freiwillige Umzüge. Im Jahr 2014 | |
forderte das Amt 12.000 Hartz-IV-Haushalte auf, in eine günstigere Wohnung | |
zu ziehen. Das haben nur 559 getan. 2015 sank ihre Zahl noch mal auf etwa | |
450. Es gibt einfach keine Alternativen, die mit dem Regelsatz zu bezahlen | |
wären. Ohnehin müssen immer mehr Hartz-IV-Haushalte Geld für die Miete vom | |
Lebensnotwendigen abknapsen. | |
Wenn die Leute in ihren Quartieren bleiben, ist dann „Verdrängung“ | |
überhaupt der richtige Begriff? | |
Ich spreche deswegen von „innerer Verdrängung“, also der Verdrängung | |
innerhalb des Quartiers in schlechte Bestände. Das ist der Moment, wo | |
meiner Meinung nach echte Wohnungsnot beginnt. Vorher konnte man über | |
Wohnungsknappheit oder -stress sprechen. Als Leute noch von einem Quartier | |
ins nächste gezogen sind, war das sicherlich belastend – aber noch keine | |
harte Wohnungsnot. Wir werden uns noch sagen hören: „Was waren das für | |
tolle Zeiten, als in Marzahn-Hellersdorf noch Wohnungen frei waren.“ | |
Und was ist mit der Prognose, dass große Teile der Innenstadt bald | |
„Hartz-IV-freie Zonen“ sein werden? | |
Unsere Untersuchungen haben etwa im als besonders hipp geltenden Neuköllner | |
Schillerkiez gezeigt, dass viele Leute dort immer noch weit | |
unterdurchschnittliche Einkommen haben. Neuköllns ehemaliger | |
Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hat sich seinerzeit mal ganz | |
enttäuscht darüber geäußert, dass so wenig Gentrifier nach Neukölln kommen. | |
Der dachte, das soziale Problem löst sich von allein und er bekommt einen | |
schönen Mittelklassebezirk. Aber das wird so nicht sein, die Leute können | |
ja nirgends hin. Die Unterschiede werden sich von Haus zu Haus zeigen – | |
oder sogar innerhalb eines Hauses. | |
Nun liegt der Leerstand in Berlin bei etwa 1,7 Prozent. Das ist nicht viel | |
– aber bei den vielen tausend Wohnungen in der Stadt doch auch nicht zu | |
verachten. | |
Natürlich gibt es irgendwo auch mal freie Wohnungen. Aber ein | |
funktionierender Wohnungsmarkt braucht eine „Fluktuationsreserve“ von etwa | |
3 Prozent Leerstand. Viele der leerstehenden Wohnungen werden modernisiert | |
oder instand gesetzt und fallen damit vorübergehend aus. Von besonders viel | |
„echtem“ Leerstand würde ich in Berlin nicht ausgehen. | |
Das heißt, es müssen mehr Wohnungen her? | |
Vor allem müssen mehr bezahlbare Wohnungen her. Wer da allein auf den durch | |
die Nachfrage angetriebenen Markt hofft, täuscht sich. Denn frei | |
finanzierten Neubau wird es nur geben, solange das sich für die Investoren | |
lohnt. Und die versorgen zu Marktpreisen. | |
Das Thema „Wohnen“ hat im Berliner Wahlkampf eine riesige Rolle gespielt, | |
die neue rot-rot-grüne Regierung hat „Wohnen“ als Grundrecht im | |
Koalitionsvertrag verankert. Wird jetzt alles besser? | |
Die Einflussmöglichkeiten einer Landesregierung sind leider sehr, sehr | |
gering. Wenn der Wohnungsmarkt jetzt stillstünde und es nicht weiter einen | |
so massiven Zuzug gäbe, dann könnte man hier und da nach Stellschrauben | |
suchen, um die Versorgung zu verbessern. Das Hauptproblem ist ja, dass in | |
der Vergangenheit preiswerter Bestand nicht ausreichend geschützt wurde. | |
Noch dazu sind die Sozialwohnungen nach und nach verschwunden. Schon die | |
alte Senatsverwaltung hat versucht, die jetzt wieder stärker zu schützen, | |
die neue will nun Wohnungen zukaufen. Ich bin da aber skeptisch. Beides | |
kostet viel Geld, und die Konkurrenz durch Investoren ist groß. | |
Wird die neue Landesregierung also darüber stolpern, die Erwartungen so | |
hoch geschraubt zu haben? | |
Ich hoffe natürlich, dass sie die Möglichkeiten, die sie hat, auch wirklich | |
nutzt und umsetzt. Was die Gesamtentwicklung angeht, bin ich aber | |
pessimistisch. Trotzdem war es richtig, Wohnen zum zentralen Wahlkampfthema | |
zu machen. Das Problem muss ganz oben auf die Agenda. | |
Es handelt sich ja um ein gigantisches Problem. Der Stadtsoziologe und | |
Gentrifizierungskritiker Andrej Holm hat der Stadt im Mai 2016 einen | |
absoluten Wohnungsmangel von mindestens 125.000 Wohnungen attestiert. | |
Das kommt natürlich auf die Berechnung an, wir haben schon vor Jahren eine | |
Zahl von 200.000 genannt. Aber wie viele es genau sind, ist vollkommen | |
unwichtig. Es fehlen Wohnungen in einer solchen Größenordnung, dass jede | |
Anstrengung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig ist klar, dass wir immer | |
hinter dem zurückbleiben werden, was aktuell benötigt wird. Und das vor | |
allem, weil vor 15 Jahren die Zeichen der Zeit vollkommen falsch gedeutet | |
wurden. | |
Grafiken: Svenja Bednarczyk, Quelle: Verband Berlin-Brandenburgischer | |
Wohnungsunternehmen e. V. (BBU)/Amt für Statistik Berlin-Brandenburg | |
17 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin | |
Wohnungsmarkt | |
Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |