# taz.de -- Stasi-Verdacht bei Skisprung-WM 1978: Fast ein Todessprung | |
> 1976 floh Claus Tuchscherer aus der DDR nach Österreich. Bei der | |
> Skisprung-WM 1978 verlor er einen Ski. Hatte die Stasi nachgeholfen? | |
Bild: In der Bundesrepublik Sportfoto des Jahres: Claus Tuchscherers Sprung bei… | |
Ein Skispringer im knallroten Anzug spreizt seine Arme, hochkonzentriert | |
kämpft er um die Balance in der Luft. [1][Er trägt nur einen Ski], der | |
andere schwebt zwischen seinen Beinen. | |
Es war sehr ernst, was Claus Tuchscherer auf der Normalschanze bei der | |
Nordischen Ski-WM im Februar 1978 im finnischen Lahti passierte. Beim | |
Absprung hatte sich eine Bindung gelöst. Knapp 60 Meter weit kam er, indem | |
er sein Körpergewicht in Sekundenbruchteilen auf den linken Sprungski | |
verlagerte. Nach der Landung stürzte er. Er kam mit einer | |
Wirbelsäulenverkrümmung davon. | |
Die Sache hat auch einen politischen Hintergrund: Tuchscherer stammte aus | |
der DDR, wo er beim SC Dynamo Klingenthal zu einem der besten Kombinierer | |
der Welt geworden war. Bei den Olympischen Spielen in Innsbruck 1976, wo er | |
Fünfter wurde, setzte sich der damals 21-Jährige nach Österreich ab. Fortan | |
galt er im Osten als „Sportverräter“. | |
Bis heute hält Tuchscherer es für möglich, dass jemand aus seiner alten | |
Heimat die Bindung an seinem rechten Ski manipulierte. Die Flucht eines | |
Spitzensportlers war für die DDR-Oberen immer eine große Niederlage. Eine | |
beeindruckende [2][Doku des ORF], die kürzlich die ARD zeigte, hat dieses | |
Stück Sportgeschichte beleuchtet. | |
Monate vor den Spielen verliebte sich Tuchscherer in einem Trainingslager | |
auf dem Dachsteingletscher in eine Österreicherin namens Anna. Mit dem | |
Taxi, das sie organisierte, ging es heimlich vom DDR-Olympia-Quartier in | |
Mösern nach Bischofshofen und von dort im Zug in die Steiermark, Annas | |
Heimat. Danach wurde Tuchscherer massiv von der Stasi überwacht. | |
## Ein Weltmeister als IM? | |
Stasi-Offiziere vermerkten, dass „durch Hinweise von Inoffiziellen | |
Mitarbeitern gezielte Informationen über das Verhalten und Auftreten | |
Tuchscherers bei Auslandseinsätzen erarbeitet werden konnten“. Dass zu den | |
Informanten auch der 1978er-Skisprung-Weltmeister Matthias Buse („IM | |
Georg“) von Dynamo Klingenthal gehörte, erfuhr Tuchscherer aus den Akten. | |
Buse streitet eine IM-Tätigkeit vehement ab. | |
Die DDR-Funktionäre versuchten, Tuchscherers Start für Österreich zu | |
verhindern. Doch Tuchscherer setzte sich auch in Österreich durch. „Ich | |
wollte in Freiheit meinen Sport machen und zeigen, dass man auch ohne den | |
politisch brutal instrumentalisierten DDR-Leistungssport samt Doping gut | |
springen kann.“ | |
DDR-Sportchef Manfred Ewald wollte Tuchscherer unter Zusicherung von | |
Straffreiheit zur Rückkehr bewegen. Tuchscherers Vater wurde bedrängt, er | |
solle telefonisch auf seinen Sohn einwirken. „Mein Vater ist mehrfach | |
nervlich zusammengebrochen“, sagt Tuchscherer. | |
Das veranlasste ihn Wochen später zu einer riskanten Reise. Mit seiner | |
Freundin kam er unter „vorheriger Zusage für freies Geleit“ in die DDR | |
zurück. „Im schlimmsten Fall wäre ich im Stasi-Knast gelandet. Aber ich | |
wollte meinen Eltern die Gründe für die Flucht darlegen und ihnen ihre | |
Schwiegertochter vorstellen.“ | |
Drei Wochen Frist räumten die Behörden dem jungen Liebespaar ein, um sich | |
für eine Zukunft in der DDR zu entscheiden. Für Tuchscherer war das keine | |
Option. Politische Gängelung und Doping waren für ihn inakzeptabel. Ihm war | |
klar, „dass ich für die Bonzen nur ein Stück Material war“, sagt | |
Tuchscherer. Für seine Ausreise war er klug genug, zu behaupten, dass sein | |
Motiv nur die Liebe war – nicht die politischen Umstände. Die DDR ließ das | |
Paar ziehen. | |
## Foto ging um die Welt | |
Österreich war und ist eine Skisprungnation. Die Nordische Kombination aber | |
gehörte damals nicht zur Weltspitze. Deshalb wechselte Tuchscherer zu den | |
Spezialspringern. Dort qualifizierte er sich für das Team mit Karl Schnabl | |
und Toni Innauer. Österreichs Erfolgstrainer Baldur Preiml sagt: „Der Claus | |
war ein schneidiger Bursche, ein ziviler Ungehorsam und eine große | |
Bereicherung für unser Team.“ | |
Bei der WM 1978 in Finnland war Tuchscherer für seine ehemaligen | |
DDR-Kollegen ein ernstzunehmender Konkurrent. Beim ersten Wettkampfsprung | |
passierte dann die Sache mit dem Ski. Oben auf dem Anlaufturm, da ist er | |
sich ganz sicher, hatte er die Bindung noch kontrolliert. Hatte jemand, | |
womöglich die Stasi, nachgeholfen und die Bindung manipuliert? Die Räume, | |
in denen die Skier abgestellt waren, waren nicht abgeschlossen, erinnert er | |
sich, der Zugang leicht und unkompliziert. | |
„Natürlich kann ich es nicht beweisen“, sagt er. „Aber vielleicht hatte … | |
Stasi ja doch etwas damit zu tun. Nach allem, was man heute weiß, traue ich | |
es ihr auf alle Fälle zu.“ Damit spielt er auf den Dynamo-Fußballer Lutz | |
Eigendorf an, der in den Westen geflüchtet war und 1983 bei einem | |
Autounfall starb. Einiges spricht dafür, dass ihn die Stasi ermordete. | |
Für den zweiten Sprung in Lahti reparierte Tuchscherer die Bindung | |
notdürftig und trat trotz Schmerzen zum zweiten Versuch an. Die Zuschauer | |
feierten ihn. Ein Trost war das nicht. „Die Chance auf den größten Erfolg | |
meiner Karriere war dahin.“ Das Foto ging um die Welt. Seine Skier ließ | |
Tuchscherer bei späteren Wettkämpfen nie mehr aus den Augen. | |
5 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=mRYpnJlepw4 | |
[2] https://sport.orf.at/stories/3055655/ | |
## AUTOREN | |
Thomas Purschke | |
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