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# taz.de -- Schanzenheld Helmut Recknagel: Gefeiert und bespitzelt
> Der DDR-Skispringer Helmut Recknagel wird in die "Hall of Fame" des
> deutschen Sports aufgenommen. Nach seiner Karriere arbeitete er als
> Fleischhygiene-Inspektor.
Bild: Recknagel beim Neujahrsspringen 1958 an der Olympia-Schanze in Garmisch-P…
STEINBACH-HALLENBERG taz | Am Freitag wird der erste deutsche
Skisprung-Olympiasieger Helmut Recknagel als einer von insgesamt 21
Sportstars aus West und Ost in die "Hall of Fame" des deutschen Sports
aufgenommen. Die Einrichtung war vor fünf Jahren von der Stiftung
Sporthilfe ins Leben gerufen worden. Der Festakt dazu steigt in der
mondänen Berliner Herberge Adlon.
Doch um ein Haar hätte der Schanzenheld vergangener Tage dies alles nicht
mehr erlebt. Im Spätherbst 2007, nur Monate nach seinem 70. Geburtstag, war
es richtig eng für den einstigen Überflieger. Bei einer
Prostata-Routineuntersuchung zog er sich eine lebensgefährliche Infektion
zu. Notoperation und Luftröhrenschnitt retteten ihm das Leben. Der in
Steinbach-Hallenberg im Thüringer Wald aufgewachsene Recknagel, der schon
vier Jahrzehnte mit seiner Frau in Berlin lebt, ist ein Kämpfertyp. Er ist
wieder auf dem Dampfer. Schlank und drahtig ist er noch immer.
Der kühne Skispringer Helmut Recknagel ist mit seiner Superman-Flughaltung
- Arme nach vorne, bei hohem Luftstand – in die Annalen des Sports
eingegangen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist es nun schon her, als der
damals noch 19-jährige Skispringer als erster Mitteleuropäer auf dem
berühmten Holmenkollbakken in Oslo gewann. Nach diesem Triumph 1957 krönte
er seine Laufbahn neben dem dreimaligen Gewinn der Vierschanzentournee und
zwei WM-Titeln mit dem Olympiasieg 1960 in Squaw Valley. Bei einem Besuch
des verschnarchten Nestes in Kalifornien in den Neunziger Jahren traf der
Autor eine alte Frau, die sich noch gut an den fliegenden "german eagle"
erinnern konnte.
## "Kampfstätte" im thüringischen Brotterode
In den 1950ern, als es Fernsehgeräte noch längst nicht in jedem Haushalt
gab, säumten Tausende die Schanzenanlagen. "Das waren Kampfstätten." Eine
davon stand im thüringischen Brotterode, wo Recknagels Teamkamerad Werner
Lesser herkam. Manchmal hätten die Zuschauer dort gerufen: "Wenn Recknagel
doch mal richtig auf die Fresse fliegen würde!" Viele Anekdoten kann er
erzählen. 1958 habe ihn eine minderwertige Textilhose aus ostdeutscher
Produktion, die nicht passte, bei der WM in Finnland die Silbermedaille
gekostet: "Wir froren darin wie die Hasen. Ich habe mir für 50 Dollar ein
ordentliches Westfabrikat gekauft, ohne das ich wohl später nicht gewonnen
hätte. Wer nichts investiert, wird nichts."
Die damaligen politischen Verhältnisse zwischen Ost und West bezeichnet
Recknagel "als schlimme Sache". Der DDR wurde 1959 eine vorolympische
Generalprobe in Squaw Valley verwehrt. "Wir wollten doch nur unseren Sport
machen, fern der großen Weltpolitik." 1964 bei den Olympischen Spielen in
Innsbruck blieb Recknagel ohne Medaille, woraufhin ihn der damalige
DDR-Sportchef mit Verachtung strafte.
Wie Stasiakten belegen, wurde Recknagel und sein Trainer Hans Renner vom
Sportclub Motor Zella-Mehlis massiv bespitzelt, unter anderem vom
langjährigen Sportchef des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, Klaus Huhn,
der als Geheimer Informant Heinz Mohr agierte. Trotz verlockender Angebote
hat Recknagel eine Flucht in den Westen damals abgelehnt. "Schließlich hat
mich die DDR damals großzügig gefördert. Ich wollte meine Familie und Fans,
aber auch den Staat nicht enttäuschen."
## Recknagel promovierte in Tiermedizin
Dennoch legte das SED-Mitglied Recknagel keinen Wert auf eine nachfolgende
Sportfunktionärskarriere, sondern promovierte in Berlin als Tierarzt und
arbeitete bis 1990 als Fleischhygiene-Inspektor. In einem
Deutschlandfunk-Interview im Oktober 1988 im thüringischen Oberhof hob
Recknagel zum Unwillen der SED-Oberen couragiert die Entwicklung von der
Konfrontation hin zur Dialogpolitik zwischen den Sportorganisationen von
Ost und West hervor: Es gebe inzwischen mehr Verständnis und eine bessere
Zusammenarbeit, sagte er damals und: "Wenn man jetzt über das gemeinsame
Haus Europa spricht, dann zeichnet sich ja schon viel ab."
1990 wurde er arbeitslos, nach mehreren Überbrückungsjobs wagte er 1996 mit
fast 60 Jahren einen Neubeginn und machte sich mit einem Sanitätshaus in
Berlin-Prenzlauer Berg selbstständig. "Bandagen und Prothesen oder
Blutdruckmesser werden doch immer gebraucht." Inzwischen sind es zehn
Filialen. Arbeit ist für den Vater einer Tochter und zweifachen Opa
Recknagel "therapeutisch wertvoll". Sie verlängere das Leben. Ebenso wie
Sex im Alter, dieser sorge für Harmonie von Körper, Geist und Seele, wie er
in seiner Autobiografie "Eine Frage der Haltung" verriet.
Noch immer verfolgt Recknagel interessiert die Skisprungwettbewerbe: "Ein
guter Springer bringt auf jedem Bock gute Leistungen und kritisiert nicht."
Aber auch ein zehnter Platz sei noch Weltspitze. Die Erwartungshaltung der
deutschen Skisprungfans sei überzogen. Privat hat der 74-Jährige noch
einiges vor. "Goldene Hochzeit feiern nächstes Jahr, 85 Jahre werden, und
dann sehen wir weiter."
19 May 2011
## AUTOREN
Thomas Purschke
## TAGS
Skispringen
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