# taz.de -- Wenn Korruption und Zynismus regieren | |
Von Claudio La Camera | |
Kalabrien ist eine jener süditalienischen Regionen, die als „terre di | |
mafia“ bezeichnet werden. Ich bin dort geboren. | |
Ich wuchs auf, während um mich herum die Mafia ihre Kriege führte. Ich habe | |
viele Ermordete gesehen, von Autobomben zerfetzte Körper, Unschuldige, | |
getötet, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Ich habe viele | |
Verhaftete gesehen, Männer und Frauen, Kriminelle, Staatsanwälte, | |
Polizisten. Ich habe einen Teil meines Berufslebens in Gegenden verbracht, | |
die nicht weniger berüchtigt sind für die Präsenz der Organisierten | |
Kriminalität, die dort über Armeen verfügt, die größer sind als die mancher | |
Staaten. Ich weiß, wie schwierig es ist, über die Mafien zu sprechen. | |
Aber ich weiß auch, dass die größte Gefahr ist, nicht über sie zu sprechen. | |
Wie aber kann dieses Sprechen gelingen? Wie kann man einfach und | |
verständlich ein sehr komplexes Phänomen erzählen, ohne zu lügen? Wie es | |
den heute Heranwachsenden erklären? | |
Leonardo Sciascia hat ins Zentrum seiner Darstellung die Ideale und die | |
Hoffnungen alltäglicher Menschen gestellt. In seinem Roman „Ein einfacher | |
Fall“ („Una storia semplice“, 1989) schreibt er über das Umfeld, in dem … | |
Mafia überhaupt herrschen kann, ohne sie dabei je beim Namen zu nennen: | |
Bürokraten, die nicht ihre Pflicht tun, eine kaputte, karrieristische | |
Justiz, die bei den Bürgern das Misstrauen in die Institutionen nährt. | |
So werden die Ideale zerstört, niemand hat mehr Vertrauen in den Staat, | |
niemand fühlt sich moralisch verpflichtet, selbst mit gutem Beispiel | |
voranzugehen. Korruption und Zynismus regieren, [1][es entsteht eine | |
Grauzone, ein Herrschaftssystem, das über die mafiöse Dimension | |
hinausgeht,] weil ihm auch jene Personen angehören, [2][die von Amts wegen | |
die Kriminalität bekämpfen sollten.] Indem er sein zeitgenössisches | |
Sizilien beschreibt, hat Sciascia die Welt von heute beschrieben, in der | |
jeder in das Getriebe absurder Machtspielchen geraten kann. Das Einzige, | |
was einen rettet, ist, die Wahrheit auszusprechen: Denn erzählen bedeutet, | |
dem Leben seinen Sinn zurückzugeben. | |
Hoffnung lässt die Menschen träumen, auch wenn sie wach sind, soll | |
Aristoteles gesagt haben. Eben diese Wachträumenden sind die namenlosen | |
Männer und Frauen, die vom im italienischen Süden herrschenden kriminellen | |
System in den Tod oder ins Exil geschickt wurden. Sie sind es, die die | |
Geschichte der Anti-Mafia-Bewegung in Italien ausmachen. | |
Aber von ihnen ist wenig die Rede. Es sind Richter:innen und Staatsanwälte, | |
die ihre Arbeit machen, ohne das Scheinwerferlicht der Medien zu suchen, | |
und die ohne Heldenrhetorik auskommen; es sind Journalist:innen, die sich | |
nicht den perversen Regeln der medialen Aufmerksamkeitsmaschine | |
unterwerfen; es sind Lehrkräfte, die sich für ein Erwachen der | |
Zivilgesellschaft in Süditalien einsetzen; es sind Bürger:innen, die den | |
Mut haben als ehrenamtliche Richter in Mafiaprozessen aufzutreten, während | |
manch professionelle Richter sich ihrer Pflicht entziehen; es sind Pfarrer, | |
Sozialarbeiter:innen, Gewerkschaftsleute, Schriftsteller:innen, | |
die nicht jeden Tag in der Zeitung stehen oder, wahrscheinlicher, noch nie | |
in einer standen. | |
All das sind Unsichtbare; und sie sind es, weil zu viele Menschen im | |
italienischen Süden, aber auch weit darüber hinaus, sich schlicht weigern, | |
sie zu sehen: Weil die bloße Existenz der Unsichtbaren die Feigheit und | |
Verkommenheit des eigenen Lebens infrage stellt. Sciascia war ein Freund | |
dieser Unsichtbaren, und sein Erbe gehört ihnen und allen, die nicht | |
aufhören für Wahrheit und Gerechtigkeit einzustehen. | |
Beide Texte aus dem Italienischen übersetzt von Ambros Waibel | |
8 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claudio La Camera | |
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