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# taz.de -- Streiten zu Weihnachten: Nicht nur an den Feinden zweifeln
> Vor Weihnachten noch schnell einen Irrtum ausräumen: Nur weil man die
> Leuten in der Bubble so gut versteht, gilt das nicht für alle anderen.
Bild: Streit zu Weihnachten – kommt in den besten Familien vor
Diese Woche hat mich eine – sehr schlaue – Kollegin mal wieder daran
erinnert, wie wenig ich von anderen Menschen verstehe. Für gewöhnlich
glaube ich, das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mich zum Beispiel ganz
schlecht streiten, weder mit Freunden, noch mit Partnern, noch mit meiner
Familie.
Denn was löst gemeinhin Streit aus? Der andere macht was, sagt was, denkt
was, was man selbst nun wirklich nie tun, denken, sagen würde. Man versteht
nicht mal, wie man darauf kommen kann: den Müll nicht mitnehmen, wenn man
runtergeht (dieser andere bin meistens ich, um ehrlich zu sein), [1][Impfen
für gefährlich zu halten], nicht zu sehen, wie man sein eigenes Unglück wie
ein Perpetuum mobile reproduziert und jede Hilfe in den Wind schlägt, oder
ohne Punkt und Komma zu reden, ohne zu bemerken, dass auch andere am
„Gespräch“ beteiligt sind.
All das – oder auch das Gegenteil – kann einen in den Wahnsinn treiben.
Dann knallt’s für gewöhnlich, nicht selten an Weihnachten, wenn man mit
vielen, die man liebt, zusammensitzt und eigentlich nur in Ruhe Kekse
futtern und kichernd alte Fotos anschauen will. Aber dann passiert doch das
eben Beschriebene. Nur dass mir dann, noch bevor ich mich richtig aufregen
kann – meistens zumindest –, sehr schnell einfällt, was den, der da gerade
nervt, so antreibt. Warum das für den so wichtig ist, was er da sagt und
tut; und welcher Schmerz, welches unfüllbare Loch in ihm lauert. Und dann
reg ich mich doch nicht auf, zumindest nicht so lange.
Und weil das bei den Leuten in meiner Bubble so gut funktioniert, denke ich
in selbstherrlicher Verblendung oft, ich müsste auch Leute außerhalb meiner
Bubble immerhin so weit verstehen, dass ich mich nicht allzu sehr aufregen
muss. Was übrigens nicht heißt, dass man deren Verhalten dann gleich gut
finden soll. Es wird halt nur weniger scary, wenn man versteht, was sie
antreibt.
Ist es nur ein Schrei nach Liebe oder echte Kälte? Das habe ich mich die
letzten vier Jahre immer gefragt, wenn irgendwo ein Trump-Tweet aufploppte,
und ich frage es mich seit einem halben Jahr – mit fast noch größerem
Grausen als bei Trump, wenn ich Corona-„Skeptiker“ mit gelbem „ungeimpft�…
Stern demonstrieren sehe, die glauben, quasi in einer Diktatur zu leben.
Ja, ehrlich gesagt glaube ich oft, sie sehnen sich nach einer irgendwie
gearteten Diktatur, gegen die sie mit Schaum vor dem Mund demonstrieren
können. Ich glaube das aus einem einfachen Grund: Sehr wahrscheinlich haben
sie dieselben Kinder- und Jugendbücher über den Aufstieg des
Nationalsozialismus gelesen wie ich – und sich in kindlichem Größenwahn
zurechtfantasiert, wie sie es aber, wenn sie dabei gewesen wären,
verhindert hätten. Wie sie es anders gemacht hätten als ihre Großeltern.
So naiv und bescheuert das ist: In meinen wohlmeinenden Momenten denke ich,
vielleicht hat dieser kindliche Größenwahn in ihnen überlebt, und deshalb
faseln sie jetzt Zustände herbei, gegen die es zu rebellieren gälte (statt
sich vor dem zu fürchten, was ist, eine sehr reelle Pandemie). Weil sie
vielleicht glauben, das hier ist ihre letzte Chance, sich selbst zu
beweisen, dass sie die besseren Deutschen sind.
Vielleicht ist das aber auch kompletter Bullshit. Vielleicht gibt’s keine
gute Erklärung für manchen Wahnsinn. Dass ich so ticke, hat ja auch nur mit
dem zu tun, worüber meine Schwester und ich heute noch lachen: Immer wenn
wir in der Schule, im Kindergarten ein anderes Kind so richtig doof fanden,
hat meine Mutter vor allem eins interessiert: wie geht’s diesem Doofling zu
Hause? Hat er es schwer mit seinen Eltern und so fort – der ganze
Sozialarbeitersermon.
Mit der schlauen Kollegin sprach ich also diese Woche über den
[2][Mordversuch an Nawalny und warum Putin und sein Apparat, seine
„Dienste“, wirklich mit allem durchzukommen scheinen] (auch wenn hier, im
Fall Nawalny, natürlich nichts eindeutig bewiesen ist, klar).
„Die leben in einer ganz anderen Logik als wir“, sagte also die schlaue
Kollegin, „für die dient auch ein Mord der höheren Sache, die fühlen sich
umgeben von Feinden.“ Das entschuldigt jetzt natürlich nichts, schon gar
keinen Mordversuch. Und es ist, das ist klar, ein extremes Beispiel. Aber
es hat mich daran erinnert, wie wenig ich weiß – auch darüber, wie
selbstbestimmt ich eigentlich bin in der Logik, aus der heraus ich so mache
und tue. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es ist, wenn
man sich umgeben von Feinden fühlt. Und auch nicht, ob ich es könnte, wenn
man mir immer erzählt hätte, dass es so ist.
Sicher, der Mensch ist nicht nur ein Füllhorn dessen, was man in ihn
reingießt. Er hat, hoffentlich – auch so was wie einen freien Willen. Genau
deshalb ist es aber, das habe ich diese Woche – mal wieder – gelernt, ganz
gut, wenn man öfter an sich zweifelt.
24 Dec 2020
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## AUTOREN
Ariane Lemme
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
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