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# taz.de -- Profifußball als alternativlose Droge: Der Geisterstammtisch
> Ist die Bundesliga öde? Woran liegt es? Und warum schauen wir trotzdem
> immer wieder hin? Ein kleiner Spieltagstalk.
Bild: Torschütze auch ohne Publikum: Mats Hummels traf gegen Arminia Bielefeld…
Alina: Ich hatte ja gedacht, dass der Bruch mit dem Männerfußball
spannender wäre. Man schmeißt so beziehungskrachmäßig die Fernbedienung an
die Wand und das war’s. Aber diese lang erwartete Entfremdung ist ja total
unspektakulär. Es schleicht sich so aus. Ach, die spielen heute schon
wieder? Wer ist dieser neue Trainer bei Mainz, oder ist der schon seit zwei
Jahren da? Man freut sich nicht mal, dass die Bundesliga keinen
interessiert, weil es einen halt nicht interessiert.
René: Was mich aber doch überrascht, ist, dass die Motivation der Spieler
selbst gar nicht unbedingt sinkt. Ich meine, statt vor 70.000 spielen die
jetzt da vor ’n paar Kameras und Betreuern und 0 zahlenden Zuschauern! Und
hauen sich trotzdem rein. Sind das Tiere? Sind die gesteuert? Auf Drogen?
Psychologisch ist das schon interessant. Es gibt trotz Corona und
Geisteratmo keinen offensichtlichen Leistungsabfall. Außer vielleicht bei
Schalke.
Alina: Na ja, ein bisschen bräsiger ist es schon. Köln gegen Bayern hätte
in einem vollen Müngersdorfer Stadion anders ausgesehen und wäre auch eher
mal 2:2 ausgegangen. Aber da ist halt auch dieses irre Pensum schuld.
Fußball hat ja mittlerweile etwas von Bahnrad angenommen, er rast und rast
im Kreis. Als Spieler kannst du da gar nicht nachdenken oder zur Seite
gucken, zack, sonst bist du raus. Diesen Widerspruch zwischen dem
strampelnden Fußball und einer Lockdown-Gesellschaft im Stillstand, das ist
ja eigentlich hübsch, das könnte mal jemand untersuchen. Und gleichzeitig
bewegt er sich halt doch nicht von der Stelle. Die Tabellenspitze ist jetzt
schon wieder 1:1 dieselbe wie am Saisonende. Ein
Hochgeschwindigkeits-Murmeltiertag.
René: Wobei schon erstaunlich ist, dass da keiner einen Mucks macht. Dass
es noch keinen Corona-Deisler gibt oder jemanden, der auf diese Missstände
auch mal von innen hinweist. Alle durchneoliberalisiert. Aber ja, du
sagtest vorhin: ausschleichen. Die Kehrseite sollte ja sein, dass man sich
als Konsument allmählich von der Droge verabschiedet. Sie ausschleicht. Ich
weiß aber gar nicht, ob das wirklich passiert. Oder ob man dann doch immer
wieder und immer noch hinguckt, ob die Bayern doch mal stolpern und es
Dortmund mal schafft, oder wer sich dem Abstiegsdrama hingeben muss. Womit
ich ja schon wieder bei Schalke wäre. Bahnrad hast du gesagt. Ein
Bahnradfahren, bei dem man immer zugucken muss. Wie einem Mobile über der
Wiege.
Alina: Ja, das habe ich mich auch schon gefragt. Ich habe mich ja doch drei
Sekunden gefreut, dass Leipzig gepatzt hat und Bayern wieder oben steht.
Ich gucke seltener hin und weniger emotional, aber sicher nicht nicht. Wir
beide leben ja auch zumindest teilweise davon, hinzugucken, also, wir
können uns ganz wörtlich nicht leisten, ganz wegzuschauen. Wie Fußballer
eigentlich. Mobile über der Wiege ist ein schönes Bild, wir sind mit diesem
Fußball geboren. Und beim Ausschleichen wäre ja die Frage, wohin. Alles
existiert in den Strukturen desselben Systems, in DFB, Fifa, IOC,
Kapitalismus, außer vielleicht Hütchenspiel. Wir leben quasi als Süchtige
in der Meth-Küche. Selbst Hütchenspiel ist schon auch sehr raffgierig.
Wohin schleichen wir aus? Und ist das nicht eigentlich auch nur eine
Illusion eines Auswegs?
René: Hihi, jetzt wird es schon so richtig philosophisch. Wir sollten so
was wie „Trainspotting“ auf Fußball gemünzt schreiben... Es gibt ja die
Zurück-zur-Natur-Verfechter. Die meinen, lieber Kreisliga gucken, das wäre
noch echter Fußball.
Alina: Oh Gott, da bin ich voll gegen. Diese Romantisierung von Schiri
verprügelnden, dicken Männern, die einander mit Bierkästen bestechen und
dem Frauenteam keine Platzzeiten geben wollen, das ist doch total
regressiv. Aber „Trainspotting“ ist super. Bike-Spotting.
Den Talk führten Alina Schwermer und René Hamann
1 Nov 2020
## AUTOREN
Alina Schwermer
René Hamann
## TAGS
Schalke 04
Fußball-Bundesliga
Amateurfußball
Kolumne Press-Schlag
Nordmazedonien
Die Mannschaft
Kolumne Eingelocht
American Pie
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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