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# taz.de -- Erstsemester und Corona: Start in die Onlineleere
> In wenigen Tagen beginnt für Zehntausende Erstsemester in Berlin das
> Studium – zeitgleich mit erneuten Verschärfungen der Coronamaßnahmen.
Bild: Gesperrt: der Haupteingang der Humboldt Universität in Berlin
Studiert hier jemand Bio?“, fragt ein Neuankömmling in eine kleine
Menschenansammlung im Monbijoupark. Zahlreiche Gesichter drehen sich um,
noch bevor mehrere Stimmen gleichzeitig „Ja!“ antworten. Schnell ist der
Neue in die Gruppe aufgenommen. Die meisten hier sind 18 oder 19, frisch
nach Berlin gezogen und vor allem eins: aufgeregt. Denn niemand kennt sich.
Es ist ungemütlich und nass. Der Brunnen in dem kleinen Park in Mitte ist
abgestellt, die Rosen sind verblüht. Ein kalter Ort für ein Treffen, bei
dem es darum geht, miteinander warm zu werden. Doch die rund 25 angehenden
Bio-Studierenden der HU, die sich Mitte Oktober hier zum Kennenlernen
getroffen haben, nehmen es pragmatisch. Ein Indoor-Treffen war wegen der
Pandemie keine Option. Und so hält man sich mit Scherzen warm, die ersten
Lacher lockern die Atmosphäre auf.
„Es ist, glaube ich, besonders für Leute schwer, für die es nicht so leicht
ist, auf andere Menschen zuzugehen“, sagt Josephine Machold, Erstsemester
im Fach Biologie. Die 18-Jährige hat in diesem Jahr Abitur gemacht und ist
aus ihrem kleinen Heimatdorf im Schwarzwald zielstrebig in die Hauptstadt
geeilt. Corona hat ihren Neuanfang in Berlin verkompliziert: „Man trifft
sich jetzt nicht einfach in der Vorlesung und lernt sich kennen, sondern
muss aktiv versuchen, mit anderen in Kontakt zu treten.“
Stell dir vor, es ist Uni – und keiner geht hin. Entgegen allen Hoffnungen
und Beteuerungen wird das kommende Wintersemester an den Berliner
Hochschulen wegen der aktuellen Infektionsdynamik in weiten Teilen online
stattfinden. Zwar fand schon das vergangene Semester beinahe ausschließlich
online statt, doch die allermeisten Uni-Neulinge – 2019 berlinweit immerhin
36.000 – beginnen ihr Studium im Herbst. Und so trifft der aktuelle
Beschluss eine Schar von jungen Abiturienten besonders. Sie müssen sich zu
Semesterstart am 2. November in einer Situation zurechtfinden, die schon
ohne globale Pandemie aufwühlend genug wäre.
Auf diese trüben Aussichten antworten die Studienanfänger mit einer
Voraborganisierung über soziale Medien: Zumeist sind es die studentischen
Fachschaftsinitiativen, die Facebook-Gruppen für die jeweiligen
Studiengänge erstellen. Über die entstehen dann Chatgruppen auf Messengern
wie Whatsapp, wo Treffen wie das im Monbijoupark vereinbart werden – die ab
November nach den jüngsten Coronabestimmungen höchstens noch mit zehn
Teilnehmer*innen stattfinden dürfen. „Ich hab mir extra wieder Facebook
geholt, nur um in unsere Gruppe zu kommen“, sagt Josephine.
Die Hochschulen haben die Erstsemester-Problematik vor Langem erkannt. In
einer gemeinsamen Pressemitteilung der Landeskonferenz der Rektoren und
Präsidenten und der Senatskanzlei hieß es schon im September: „Umfragen und
Erfahrungen aus dem digitalen Sommersemester 2020 haben gezeigt: Der
Lernort Hochschule ist für den persönlichen Austausch und die soziale
Interaktion im akademischen Alltag enorm wichtig.“Deswegen plane man für
Erstsemester prioritär Präsenzveranstaltungen, um ihnen den Studieneinstieg
zu erleichtern. Nach einem Senatsbeschluss soll hierfür weiterhin eine
Ausnahme vom ansonsten flächendeckenden Onlinebetrieb möglich sein,
allerdings nur in kleinen Gruppen.
## Das Studium lebt vom Austausch
Studienanfängerin Josephine ist ganz auf Kurs: „Ich hoffe, dass es auch
wirklich noch Präsenz-Veranstaltungen geben wird, weil es viel einfacher
wäre, da Leute kennenzulernen.“ Was Erstsemester wie sie schon ahnen, das
ist jedem universitätserprobten Menschen Gewissheit: Das Studium lebt vom
menschlichen Austausch, informell wie formell. Welche Deadlines muss ich
einhalten? Was wurde besprochen, als ich krank war?
Digitale Räume können den menschlichen Kontakt nicht vollends ersetzen,
meint auch Felix Mankiewicz von der LandesAstenKonferenz, dem Berliner
Zusammenschluss der studentischen Selbstverwaltungen. Die Onlinelehre nennt
er „Uni-Tinder“: „Man sieht ja nur noch Fotos und Gesichtsausschnitte. Wie
soll man da wissen, ob die anderen zu einem passen, beispielsweise für eine
Gruppenarbeit?“
Die allseitige Ablehnung der Onlinelehre für Erstsemester steht den
dramatisch steigenden Infektionszahlen gegenüber. Kurz vor Semesterbeginn
ist vieles noch unsicher: „Da die Raumplanung für das kommende Semester
noch nicht vollständig abgeschlossen ist, kann die Frage nach dem Umfang
von Präsenzveranstaltungen zu diesem Zeitpunkt nicht abschließend
beantwortet werden“, gesteht Hans-Christoph Keller, Pressesprecher der
Humboldt-Universität, auf Anfrage der taz. Es zeichnet sich ab: Für die
meisten Studienanfänger wird es – wenn überhaupt – nur einzelne
Präsenzveranstaltung geben.
„Der Versuch der Hochschulen, einen Mittelweg zwischen Einhaltung der
Corona-Auflagen und dem Wunsch nach Präsenzveranstaltungen für Erstsemester
zu finden, ist bei den ansteigenden Infektionszahlen schwer umzusetzen“,
urteilt Martina Regulin, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft für Erziehung
und Wissenschaft Berlin für den Bereich Hochschulen.
„Nach dem aktuellen Beschluss sind bis auf wenige Ausnahmen nur noch
Gruppengrößen von maximal 25 Personen erlaubt.“ Derart kleine
Veranstaltungen sind gerade für Institute mit vielen Studierenden vor allem
eins: sehr ressourcenintensiv. Deswegen habe der Senat zwar zusätzliche
Gelder bewilligt, die Schwierigkeit allerdings, in solch kurzer Zeit die
nötigen neuen Mitarbeiter für die entstehenden Kleingruppen einzustellen,
gebe der Senat an die Hochschulen weiter. „Viele Dinge wurden viel zu spät
beschlossen,“ resümiert Regulin.
Die Kriterien für den Präsenzbetrieb regelt ein vom Senat im September
beschlossener Stufenplan: Gekoppelt an die Berliner Corona-Ampel sind darin
drei Stufen definiert, in denen der Hochschulbetrieb zunehmend
eingeschränkt wird.
Der Senat versucht, das Eintreten der Stufe drei zu verhindern, in der auch
keine Präsenzlehre mehr für Erstsemester möglich wäre. Dann dürften nur
noch Veranstaltungen in Präsenz stattfinden, die für die digitale Lehre per
se ungeeignet sind, etwa Labore und Praktika.
Bei aller Unsicherheit darüber, wie digital das kommende Semester wird,
treibt die Studienanfänger traditionell jedoch noch eine ganz andere Frage
um: Wie organisiere ich so ein Studium überhaupt?
Das Besondere in diesem Jahr: Einführungsveranstaltungen und
Informationsstellen der Hochschulen wurden durch digitale Angebote ersetzt.
Diese erreichen viele Studierende nicht. „Ich war erst mal überfordert, vor
allem mit dem Studienportal der HU“, erzählt Studienanfängerin Josephine
Machold. Wie ihr geht es vielen. In den Whatsapp-Gruppen der Erstsemester
türmen sich die Fragen. Bei den Service-Hotlines der Unis musste man sich
schon während des gesamten Sommers auf lange Wartezeiten einstellen.
Diese Überlastung fällt in eine Zeit, in der der Bedarf an
Einführungsveranstaltungen eigentlich zunimmt. „Die Onlinelehre vergrößert
die Abhängigkeit von hochschulinternen digitalen Informationssystemen und
von Webdiensten wie Zoom“, so Felix Mankiewicz stellvertretend für die
LandesAstenKonferenz. Denn wenn sich sonst in den ersten Wochen des
Studiums klärt, wie man wo sein Studium digital managt, muss Derartiges nun
schon zu Beginn des Semesters stehen, damit die Lehre überhaupt möglich
ist.
Dieser zunehmenden Relevanz der Plattformen steht ein prekäres Angebot an
Einführungsangeboten gegenüber: „Die Verwaltungen sind heillos
überfordert“, so Mankiewicz. Dies bringe auch die Studienfinanzierung für
manche in Gefahr: „Wegen der oft enorm langen Bearbeitungszeiten in den
Studienverwaltungen können Anträge auf Bafög zum Teil nicht mehr
fristgerecht gestellt werden.“
Bei der Überlastung der Univerwaltungen wirft Corona ein Schlaglicht auf
bestehende strukturelle Schwächen der Hochschulpolitik. So auch bezüglich
der Abfederung sozialer Ungleichheiten: In Coronazeiten hängt es mehr denn
je vom individuellen sozialen Hintergrund ab, ob Studienanfänger mit
Zuversicht oder Sorge auf das Studium blicken können.
Denn das Zurechtkommen in der Onlinelehre steht und fällt mit Fragen wie
der Wohnsituation, technischen Ausstattung und persönlichen Finanzen. Auch
wenn im kommenden Semester missglückte Prüfungsversuche nicht zählen und
Bafög länger gezahlt wird – wegen Corona länger zu studieren muss man sich
eben auch leisten können.
Trotz der turbulenten Aussichten für ihr erstes Semester bleibt Josephine
optimistisch: „Ich glaube, man sollte sich trotzdem auf die Erfahrungen
freuen, auch wenn vieles anders ist als in den Vorjahren.“ An
Herausforderungen könne man schließlich auch wachsen. Den Studienanfängern
dürfte indes kaum etwas anderes übrig bleiben. Der Corona-Nothilfefonds für
Studierende jedenfalls wurde vom Bundesbildungsministerium zum Oktober hin
gestrichen.
30 Oct 2020
## AUTOREN
Björn Brinkmann
## TAGS
Leibniz Universität Hannover
Wissenschaft
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