# taz.de -- Die Wahrheit: Famose Schnurr- und Schamhaare | |
> Die merkwürdigsten Museen der Welt (3). Heute: Das Haarmuseum in München, | |
> Bayern – und im weltweiten Netz. | |
Bild: Beschnurrbarte Autorin vor Exponaten | |
Regine von Chossy traf ich zum ersten Mal im hessischen Alsfeld. Haare | |
hatte sie! Lang und kräftig und für gleich drei Köpfe ausreichend. An | |
solchen Haaren hängen für gewöhnlich Zirkusprinzessinnen unter der Kuppel, | |
Pirouetten vorführend. Mit zwei Kollegen saßen wir in einem griechischen | |
Restaurant, waren Teilnehmer einer Ausstellung, die tags darauf in einem | |
der windschiefen Fachwerkhäuser der mittelalterlichen Stadt eröffnet werden | |
sollte. | |
Regine bestellte eine große Platte mit Fisch, Fleisch, allerlei Gemüse, | |
Reis und gebackenen Kartoffeln. Das schafft sie doch nie! So viel, | |
ausreichend für zwei!, dachte ich, als das Essen kam. Aber sie verputzte | |
mit Lust auch noch das letzte Petersilienblättchen und wischte sogar mit | |
dem Finger den wohl köstlich schmeckenden Soßenrest auf, während sie uns | |
mit Geschichten von ihrer russischen Verwandtschaft unterhielt. | |
Der Chef des kleinen Lokals reichte neue Getränke und als er Regines | |
blankes Geschirr abräumen wollte, sagte sie, sie hätte immer noch Hunger. | |
Ob sie noch mal dasselbe bekommen könnte. „Wo tust du das hin?“, fragte | |
ich, und sie sagte: „Mein Magen ist ebenso groß wie mein Herz, ihr Lieben!“ | |
Als die zweite Platte nicht weniger lustvoll verputzt worden war, trat der | |
Chef an unseren Tisch und sagte voller Bewunderung, dass er eine so | |
genussvolle Esserin noch nie erlebt hätte, und dass ihr Mahl aufs Haus | |
ginge. Auch der Koch kam und bestaunte die leergeleckte Platte. Ein Tablett | |
mit Schnaps materialisierte sich vor uns und alle stießen miteinander an. | |
Der Koch nahm seine grandiose weiße Mütze ab und verbeugte sich vor der | |
schönen Genießerin. | |
## Der Koch verneigte sich | |
„Wow! Was für prachtvolles Haar sehe ich da!“, schrie Regine auf, denn | |
unter des Koches Mütze verbarg sich überraschend schönes, weich fließendes, | |
leicht gewelltes, rabenschwarz-bläulich glänzendes und sehr gepflegtes, | |
fast schulterlanges Haar. Der Koch verneigte sich abermals und sagte, dass | |
er sein Haar ihr zu Ehren auf der Stelle abschneiden lassen würde, und dies | |
täte er sonst nie für eine Frau. Und Regine sagte, dass sie diese Gabe sehr | |
gern annehmen würde, denn sie, sie wäre die Chefin eines Haarmuseums. So | |
fand das Haar des Kochs einen Ehrenplatz in dem kleinen privaten Münchner | |
Haarmuseum der Regine Chossy. | |
Schon bald besuchte ich sie, und Regine zeigte mir ihre Schätze. Sie | |
arbeitete gerade an einem Wandteppich, den sie ganz und gar aus Haaren | |
mehrerer Künstlerinnen webte. | |
„Fass ihn an!“, forderte sie mich auf, „du wirst staunen!“ | |
## Textur wie Schamhaar | |
Zaghaft berührte ich das Gebilde und zog augenblicklich meine Hand wieder | |
zurück, als hätte mich ein leichter Stromschlag getroffen. Wie Schamhaar | |
fühlte sich die Textur an! | |
„Unglaublich!“, sagte ich. Ja, erwiderte Regine, sie hätte schon mal ein | |
ähnliches Objekt geschaffen, und als dieses in einer Ausstellung hing, | |
beobachteten die Wärter einzelne Besucher, die verstohlen das Gewebte | |
streichelten. Und dabei erröteten! „Und es waren nicht immer nur Männer!“, | |
grinste die Museumschefin. | |
Jener Teppich wurde damals verkauft, und auch wenn der Käufer den Wunsch | |
geäußert hatte, anonym zu bleiben, könne sie sich vorstellen, wo er jetzt | |
hängt und welche Fantasien er auslöst, sagte Regine und lachte leise, wobei | |
sich ihre grünen Katzenaugen zu Schlitzen verengten und ich ein leises | |
Schnurren vernahm. Aber wahrscheinlich war es nur eine akustische | |
Täuschung. | |
## Holger und das Haar | |
Die ausgefallenen Schnurrhaare meiner beiden Kater habe ich im Laufe der | |
Jahre gesammelt und ihrem Museum gespendet, und auch ein weißblondes Haar | |
des 2017 verstorbenen Musikers Holger Czukay, der Mitbegründer der | |
legendären Band CAN war und sein Leben lang wunderbare Musik komponierte. | |
Weil ich ihm vor vielen Jahren Fanpost schickte, besuchte er mich in meinem | |
damaligen Bielefelder Atelier im Haus der Artists unlimited und tanzte dort | |
für mich allein eine Tarantella. Dabei fiel dieses lange, weißblonde Haar | |
zu Boden. Es leuchtete silbrig im Mondlicht auf dem Grau des Betons, und | |
ich hatte sofort die Idee, es dem Haarmuseum zu schenken. Holger Czukay war | |
einverstanden. Regine freute sich darüber sehr, verlor es aber bald, wie | |
sie mir bedauernd mitteilte, als sie vom Tod des Musikers hörte. Die | |
Schnurrhaare meiner Kater hätte sie aber noch, meinte sie wie zum Trost. | |
Seltsamerweise fing Regines Gesangskarriere genau in der Zeit an, da ich | |
ihr Czukays Haar zukommen ließ. In Haaren werden ja außer Umweltgiften und | |
Spuren von Drogen auch Energien gespeichert, das weiß doch mittlerweile | |
jeder! Und so grüble ich heute noch darüber, wie das musikalische Talent | |
plötzlich über sie kam. Was hatte Regine bloß mit dem silberblonden Haar | |
angestellt? | |
5 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Yvonne Kuschel | |
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