Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- An der griechisch-türkischen Grenze: Rückkehr nach Istanbul
> Seit drei Wochen sitzen Flüchtende am Grenzübergang Pazarkule fest. Wer
> ein Leben hat, das auf ihn wartet, kehrt zurück in die Türkei. Andere
> sind entschlossen zu bleiben.
Bild: Mariam und Mahyar und ihre Freund*innen am 28. Februar an der Grenze
Am Morgen des 28. Februar erhielt Mahyar einen unerwarteten Anruf. Am
Telefon war sein Kollege, der nicht zur Arbeit in dem Barbierladen im
Istanbuler Stadtteil Esenyurt gekommen war, in dem Mahyar Haare schneidet.
Die Grenze zu Griechenland sei offen! Als Mahyar das hörte, beschloss er,
sein Glück zu versuchen.
Zusammen mit seiner Frau Mariam war er vor einem Jahr auf der Suche nach
einem freieren und sicheren Leben aus dem Iran in die Türkei gekommen. Doch
auch in der Türkei waren die beiden, die hier aus Sicherheitsgründen nur
mit ihren Vornamen genannt werden wollen, nicht sicher und frei. Also
brachen sie auf.
Nachdem die türkische Regierung Ende Februar verlautbart hatte, dass sie
die Grenzen geöffnet habe, sind zehntausende Geflüchtete zur
griechisch-türkischen Grenze gefahren. In der ersten Woche gab der
türkische Innenminister Süleyman Soylu jeden Tag bekannt, wie viele
Flüchtende angeblich nach Europa gelangt seien. Die griechische Regierung
widersprach diesen Zahlen.
In seiner letzten Erklärung am 7. März behauptete Soylu, dass mehr als
143.000 Personen das Land verlassen hätten. Er ermutigte die Geflüchteten
dazu, den Grenzfluss zu überqueren: “Das Wetter ist gut und es wird wärmer.
An manchen Stellen ist das Wasser nur 40 oder 50 Zentimeter tief. Das
bedeutet, dass Sie einfach rüberlaufen können.“
## Am nächsten Tag werden die Grenzen geschlossen
Mahyar und Mariam mieteten zusammen mit drei Kollegen und fünf weiteren
Personen einen Kleinbus für umgerechnet 170 Euro und fuhren zur 200
Kilometer entfernten Grenzstadt Edirne. Als wir sie dort fotografierten,
dachten sie vielleicht, dass das ihre letzten Fotos aus der Türkei sein
würden.
Doch es kam anders. Kaum dort angekommen, wurden ihnen klar, dass die
Versprechungen der türkischen Regierungen falsch waren. Sie erlebten, wie
brutal die griechischen Sicherheitskräfte gegen die tausenden von Menschen
vorgingen, die sich in der Pufferzone zwischen der Türkei und Griechenland
drängten. Sofort beschlossen Mahyar und Mariam, nach Istanbul
zurückzukehren.
Seither wartet Mahyar wieder im gleichen Barbierladen auf Kundschaft. Auf
seiner Mütze steht “My life is my life“. Beim Sprechen neigt der 28-Jähri…
seinen Kopf nach vorne: “Es scheint nicht die richtige Zeit zu sein, um
nach Europa zu gehen. Auch wenn wir es nach Griechenland geschafft hätten,
würden wir dort stecken bleiben. Die türkische Regierung und die Medien
haben uns angelogen.“
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wurde in Europa scharf dafür
kritisiert, die Geflüchteten als Druckmittel zu instrumentalisieren.
Trotzdem versucht die EU, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu retten.
Bei einer Videokonferenz mit Erdoğan am 17. März erklärten sich
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel
Macron zu einer Aufstockung der EU-Mittel zur Versorgung von Geflüchteten
in der Türkei bereit.
Direkt am Tag darauf kündigte das türkische Innenministerium an, dass die
Türkei die geöffneten Grenzübergänge zu Griechenland und Bulgarien „im
Rahmen der Maßnahmen gegen das Coronavirus“ um Mitternacht für den
Grenzverkehr schließen werde. Voraussichtlich werden die Lager an der
Grenze in den kommenden Tagen geräumt und die Menschen zurückgeschickt.
## Der Schock sitzt immer noch tief
Die Hoffnung der Menschen, die seit drei Wochen in der Pufferzone des
Grenzübergangs Pazarkule-Kastanies oder in den naheliegenden Wäldern auf
die Grenzöffnung warten, schrumpft jeden Tag. Durch die schwierige
Versorgungslage und die schlechten hygienischen Bedingungen haben viele
Menschen die Hoffnung inzwischen ganz aufgegeben und sind in die Städte
zurückgekehrt, in denen sie zuvor gelebt haben.
Mahyar und Mariam konnten die Erlebnisse noch nicht verarbeiten. Die
24-jährige Mariam, die halbtags in einem Kosmetiksalon arbeitet und über
Instagram selbstentworfene Kleider verkauft, erzählt, dass sie seit ihrer
Rückkehr aus Edirne an Depressionen leide. Sie kann die Menschen nicht
vergessen, die dort unter Planen schlafen. Eine Gaspatrone landete genau
vor ihren Füßen, der Schock sitzt immer noch tief: “Ich bekam keine Luft
mehr. Ich konnte nichts mehr sehen und nichts mehr denken. Ich hörte nur
noch die Stimmen, die Schreie der Frauen, das Weinen der Kinder, und spürte
den Drang fortzulaufen.“
Mariam erzählt, dass sie versucht habe, mit ihren Freund*innen zu sprechen
und in den Alltag zurückzufinden. Aber dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit
und Unsicherheit bekommt sie nicht los. Trotzdem hätten sie nicht weiter an
der Grenze warten können, sagt sie, denn: “So wenig es auch sein mag, wir
hatten etwas zu verlieren. Daran wollten wir festhalten.“
Was sie zu verlieren hatten, war ihr ungewisses Leben, ihre unregistrierten
Jobs. Afghanische und iranische Geflüchtete haben in der Türkei keinen
Schutzstatus und können kein Asyl beantragen. Die Türkei helfe
Asylsuchenden nicht, sondern betrachte sie als Touristen und versuche an
ihr Geld zu kommen, sagt Mahyar. “Erst sagen sie, dass wir bleiben können,
aber dann geben sie uns doch keinen Aufenthaltstitel. Wenn man Geld hat,
kann man sich ein Haus kaufen und einen Pass bekommen, wenn nicht, dann hat
man hier keinen Platz.“
Mahyar hatte zumindest ein wenig Glück, sein Chef im Barbierladen hat ihn
unterstützt. Als sich Mahyar auf den Weg zur Grenze machte, bat er um
Urlaub: “Wir haben ihm gesagt, dass wir zurückkehren, wenn wir es nicht
über die Grenze schaffen. Er hat uns drei Tage frei gegeben.“
## Viele haben ihre Wohnung und ihre Jobs gekündigt
Viele der Menschen, die seit drei Wochen an der Grenze warten, haben in
Istanbul kein Leben, in das sie zurückkehren können. Am 13. März nähten
zwei afghanische Jugendliche ihre Münder zu und traten in den Hungerstreik,
um gegen die Zustände an der Grenze zu protestieren.
„Die syrischen Geflüchteten waren an der Grenze in der Minderheit, die
meisten Flüchtenden waren Afghanen. Diese Menschen fühlen sich betrogen“,
berichtet ein Flüchtlingsaktivist, der in den vergangenen drei Wochen am
Grenzübergang war und seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen
will. „Viele haben ihre Jobs gekündigt und ihre Wohnungen aufgegeben, um
hierherzukommen. Wir haben mit Menschen gesprochen, die nur deshalb nicht
zurückkehren wollen, weil sie nicht wissen, was sie dort tun sollen.“
Auch Kusay aus Syrien lebt mit seiner Familie seit zwei Wochen in einem
zusammengeschusterten Zelt in der Pufferzone. In der Region sind
Journalist*innen nicht erlaubt, deshalb konnten wir mit ihm nur am Telefon
sprechen. Er berichtet davon, dass sie sich im Fluss waschen und
stundenlang anstünden, um an Nahrungsmittel zu kommen, die türkische
Hilfsorganisationen dort verteilen. Um zu dem drei Kilometer entfernten
Laden zu gelangen, müssten sie ihre Fingerabdrücke abgeben und auch dafür
warteten sie stundenlang.
Manche seien in die Städte zurückgekehrt, aus denen sie gekommen sind,
andere versuchten, die Drähte zu durchtrennen und auf die griechische Seite
zu kommen, sagt Kusay, der immer noch in Pazarkule wartet. Er will trotz
der Nachricht, dass die Türkei den Grenzübergang schließt, wenigstens noch
ein paar Tage ausharren. In Istanbul hat er keinen Job, zu dem er
zurückkehren könnte. Immer wieder hört er unterschiedliche Neuigkeiten.
In einer Telegram-Gruppe mit dem Namen “Der Konvoi, der Grenzen
durchbricht“, die inzwischen mehr als 4.000 Mitglieder hat, werden jeden
Tag die neuesten Entwicklungen geteilt, und manchmal auch Fake News. “Die
Verhandlungen dauern an. Vielleicht gibt es ja eine Lösung“, schreibt ein
Syrer. Jemand anderes hat ein Video von einer alten Bundestagssitzung
geteilt und darunter geschrieben: “Die Europäische Union beschließt
Flüchtlingshilfe“. An manchen Tagen kommen mehr als tausend Nachrichten.
## Nun bestimmt Corona die Tagesordnung
Wie soll man da noch wissen, was man glauben soll? Die Hoffnung, die in so
kurzer Zeit gewachsen ist, ist genauso schnell wieder verschwunden. Und in
Europa wird dieses Thema jeden Tag unwichtiger. Nun bestimmt das
Coronavirus die Tagesordnung.
Die Migrationssoziologin Cavidan Soykan befürchtet, dass durch die
Ausbreitung des Coronavirus in der Türkei die Anfeindungen gegen
Geflüchtete steigen werden. Bereits seit 2016 seien viele in der Türkei der
Meinung, dass die syrischen Geflüchteten nicht dauerhaft bleiben könnten
und zurück in ihr Heimatland müssten. „Ich hoffe, dass die Geflüchteten
nicht dafür bestraft werden, dass sie unerlaubt die Städte verlassen haben,
in denen sie registriert sind“, sagt sie. „Zugleich steigt die
Wahrscheinlichkeit, dass sie in den Städten, in die sie zurückkehren,
Anfeindungen der türkischen Bevölkerung und rassistischen Angriffen
ausgesetzt sind.“
Auch der Alltag im Istanbuler Stadtteil Esenyurt hat sich verändert. Mariam
und Mahyar haben inzwischen den Traum von Europa aufgegeben. Sie sind sich
einig, dass es für sie in der Türkei keine Zukunft gibt, doch sie haben
keine andere Möglichkeit, als hier zu bleiben.
Mahyar arbeitet weiterhin zwölf Stunden pro Tag in dem Barbierladen. Die
meisten Kunden in dem großzügig geschnittenen Geschäft im Erdgeschoss eines
neugebauten Wohnblocks sind Iraner. Von dem Geld, das sie für die Rasur
bezahlen, bekommt Mahyar die Hälfte. Nachdem er eine Weile geschwiegen hat,
stellt Mahyar die Frage, die gerade alle hier beschäftigt: “Wird das
Coronavirus auch uns Barbiere beeinflussen?“
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
20 Mar 2020
## AUTOREN
Vecih Cuzdan
## TAGS
taz.gazete
Politik
Schwerpunkt Coronavirus
taz.gazete
## ARTIKEL ZUM THEMA
Flucht in die EU: Türkei beendet Grenzdrama
Polizisten an der türkisch-griechischen Grenze haben 5.000 Migranten dazu
gezwungen, in Busse einzusteigen. Sie kommen erst mal in Quarantäne.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.