# taz.de -- Im türkisch-griechischen Grenzgebiet: Gefangen am Grenzfluss | |
> Auch am vierten Tag nach der türkischen Grenzöffnung ist die Situation | |
> tausender Geflüchteter aussichtslos: In die EU dürfen sie nicht. Das | |
> nutzen Gelegenheitschleuser aus. | |
Auf einer winzigen Insel im Grenzfluss Meriç warten 25 Menschen auf | |
Rettung. Sie befinden sich zwischen Griechenland und der Türkei, 35 | |
Kilometer südlich des Grenzübergangs Pazarkule in der Nähe des thrakischen | |
Dorfs Elçili. Im Glauben, von den Dorfbewohnern nach Griechenland gebracht | |
zu werden, waren sie in ein Plastikboot gestiegen. Doch die Schleuser | |
setzten sie auf der kleinen Insel ab, die technisch gesehen zur Türkei | |
gehört. Die Gestrandeten versuchen, per Handzeichen um Wasser und Essen zu | |
bitten, manche suchen einen Weg, um von der Insel auf die griechische Seite | |
zu gelangen. Sie haben die ganze Nacht auf der Insel verbracht. | |
Bis zum griechischen Festland sind es noch 300 Meter, und die Strömung ist | |
reißend. Nach eineinhalb Stunden trifft ein Motorboot der türkischen | |
Seenotrettung ein. Die griechischen Grenzschützer geben sofort Warnschüsse | |
in die Luft ab, als das Boot sich der Insel nähert. Türkische Soldaten | |
treffen auf der gegenüberliegenden Seite ein. Das Boot setzt zurück und | |
nähert sich aus einem anderen Winkel nochmals der Insel. Es nimmt die | |
gestrandeten Menschen auf und bringt sie zurück aufs türkische Festland. | |
Nicht alle wollen in das türkische Boot steigen. | |
Seit vier Tagen wiederholen sich immer wieder ähnliche Szenen. Seit die | |
türkische Regierung am 28. Februar verkündete, die Weiterreise von | |
Flüchtenden nach Europa nicht mehr verhindern zu wollen, hat eine neue | |
Migrationsbewegung aus der Türkei in die EU begonnen. Der türkische | |
Innenminister Süleyman Soylu sprach Montagmittag von 117.677 Migrant*innen, | |
die seither die Türkei verlassen haben sollen. Die griechischen Behörden | |
halten diese Zahl für unrealistisch. Dennoch hat die griechische Regierung | |
um Unterstützung durch Frontex gebeten, um die Einreise der Flüchtenden zu | |
verhindern. Regierungssprecher Stelios Petsas hat der Türkei vorgeworfen, | |
selbst zu einem Menschenschmuggler geworden zu sein. | |
An den Haaren herbeigegriffen ist das nicht, denn der öffentlich-rechtliche | |
Sender TRT hat in seinem arabischsprachigen Angebot vor wenigen Tagen eine | |
Karte getweetet, auf der die Ausreiserouten aus der Türkei nach Europa mit | |
Pfeilen eingezeichnet waren. Detailreich wurden die möglichen Routen und | |
einzelnen Ausreisepunkte für den See- und Landweg aufgezeigt. Tausende von | |
Flüchtenden versuchen derzeit, über Edirne, Çanakkale oder Izmir nach | |
Europa zu kommen. | |
## „Wir wollen hier weg“ | |
So wie die beiden syrischen Brüder Walid und Zakariya. An drei | |
verschiedenen Punkten im Umland von Edirne haben sie versucht, die Grenze | |
zu überqueren. Nach dem dritten Misserfolg an einem Tag suchten sie sich | |
ein Nachtasyl im Garten der Gazi-Mihal-Bey-Moschee, eines Prunkbaus aus dem | |
15. Jahrhundert im historischen Edirne. Sie fanden einen Platz unter den | |
600 Jahre alten Steintreppen. | |
Die Moschee aus der Frühzeit des Osmanischen Reiches liegt etwas abseits | |
der anderen Sehenswürdigkeiten der Grenzstadt. Einige Menschen schlafen | |
dort. Walid und Zekeriya sind erst vor 15 Tagen aus dem umkämpften Saraqib | |
bei Idlib in Nordsyrien geflohen. Zekeriya hat eine Wunde am Fuß und kann | |
sich nur langsam bewegen. Dennoch wollen die beiden Brüder es bis nach | |
Deutschland schaffen: „Sie haben uns gesagt, die Grenze sei geöffnet | |
worden“, erzählen sie. „Wir sind von morgens bis abends am Fluss | |
entlanggelaufen, um einen offenen Grenzübergang zu finden. Es gab keinen. | |
Wir wollen hier weg.“ | |
Seit der neuerlichen türkischen Intervention in Idlib, bei der immer mehr | |
türkische Soldaten ihr Leben in Syrien verlieren, eskalieren entsprechend | |
auch die nationalistischen Ressentiments in der Türkei. Walid und Zekeriya | |
sind mit zwei anderen syrischen Familien unterwegs. Bevor sie ihr Asyl in | |
der alten Moschee fanden, wurden sie von türkischen Anwohnern beschimpft. | |
Männer mit türkischen Flaggen in der Hand hätten ihnen Beleidigungen | |
hinterhergeschrien, erzählt Walid: „Wir sterben dort für euch, was sucht | |
ihr hier? Warum geht ihr nicht zurück und kämpft?“ | |
Die Türkei fühlt sich in Idlib alleingelassen. Hunderttausende Syrer*innen | |
warten derzeit vor der geschlossenen türkischen Grenze auf Rettung vor dem | |
syrischen Regime. Mit der Grenzöffnung will Staatspräsident Erdoğan diesen | |
Druck nun weitergeben. Am Montag traf sich Staatspräsident Erdoğan mit dem | |
bulgarischen Premierminister Bojko Borissow. Auch ein Telefonat mit Angela | |
Merkel steht aus. Erdoğan verteidigt seine Politik damit, dass seine | |
jahrelangen Warnungen nicht ernst genommen wurden. „Jetzt, wo wir die | |
Grenzen öffnen, steht das Telefon nicht mehr still“, sagte er in einer Rede | |
am Sonntag. „Alle wollen, dass ich die Grenzen wieder schließe. Aber damit | |
ist jetzt Schluss. Jetzt kriegt ihr auch einen Teil der Last aufgebrummt.“ | |
## „Keine Sorge, wir sind Einheimische“ | |
Stunde um Stunde nimmt die Zahl der hoffnungslos Wartenden am Grenzübergang | |
Pazarkule ab. Die Menschen brechen in die Dörfer der Umgebung auf, um | |
irgendwo einen Übergang nach Griechenland zu finden. Einen Kilometer vor | |
der EU-Außengrenze hat die türkische Gendarmerie Sperren und Kontrollpunkte | |
errichtet. Hier dürfen Flüchtende passieren, manche sollen aber auch an der | |
Weiterreise gehindert worden sein. Journalist*innen werden generell | |
zurückgewiesen. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen wurden bereits neun | |
Reporter*innen auf der türkischen Seite festgenommen. | |
Wer den Weg zu Fuß ins Umland antritt, begegnet immer wieder | |
Privatfahrzeugen mit Istanbuler oder Edirner Kennzeichen. Sie warten, um | |
die endgültig Desillusionierten zu völlig überhöhten Preisen ins | |
Stadtzentrum von Edirne zu fahren oder gar nach Istanbul. Denn für viele, | |
die am Grenzübergang gescheitert sind, wird die Großstadt wieder zum | |
Zufluchtsort. Andere wollen weiter südlich erneut den Übergang nach Europa | |
versuchen. In jedem Fall ist das Grenzgebiet ein irregulärer | |
Wirtschaftsraum geworden, in dem viele Einheimische, die unter der | |
Wirtschaftspolitik der Regierung leiden, von dem Unglück der Migrant*innen | |
zu profitieren versuchen. Dieser Ungeist zieht sich bis in die Dörfer. | |
In Elçili beispielsweise warten zwei Männer, die sich als „Bauern“ | |
vorstellen, am Flussufer auf Flüchtende und fragen sie, ob sie zufällig | |
übersetzen wollen. Die Frage ist nur eine rhetorische, aber die Männer | |
nennen einen extrem hohen Preis. Für umgerechnet fast 300 Euro nehmen sie | |
eine Person in ihr grünes Schlauchboot. „Wir bringen euch auch überall hin, | |
wo ihr hinwollt, aber das kostet dann mehr“, erklären die Schleuser. | |
Niemand will für den hohen Preis mit ihnen übersetzen, aber sie warten noch | |
eine Weile auf Kundschaft. Unterdessen kommt die Gendarmerie vorbei. | |
„Keine Sorge, wir sind Einheimische“, sagen die Männer mit dem | |
Schlauchboot. „Wissen wir“, sagen die Gendarmen, „aber geht jetzt bitte | |
hier weg.“ Zu viele Journalist*innen in der Nähe. Die beiden Bauern setzen | |
ihren Spaziergang am Flussufer fort. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
2 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Vecih Cuzdan | |
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