Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Unerwartete Freisprüche im Gezi-Prozess: Überraschung und Erleich…
> Ein Gericht in Istanbul hat Osman Kavala und weitere Angeklagte
> freigesprochen. Sie hatten 2013 bei den Gezi-Protesten gegen Erdoğan
> demonstriert.
Bild: Große Freude bei Mücella Yapıcı über ihren Freispruch
Es war zunächst ein sprachloses Erstaunen unter den mehr als hundert
Prozessbeobachtern in dem Gerichtstrakt des Hochsicherheitsgefägnisses in
Silivri, von denen viele zunächst glaubten, sich verhört zu haben. Dann
brach der Jubel los. Leute lagen sich in den Armen, andere weinten vor
Freude.
Für alle Anwesenden völlig unerwartet verkündete das Gericht nach knapp
einem Jahr Verhandlung am Dienstag den Freispruch. Osman Kavala, bekannter
Intellektueller, Mäzen und Menschenrechtler, der als einziger der 16
Angeklagten über zwei Jahre in Untersuchungshaft saß, soll noch am Abend
freikommen.
Während des gesamten Prozesses war mit einem solchen Ausgang nicht zu
rechnen gewesen. Obwohl die Anklage, die den Beschuldigten einen versuchten
Umsturz der Regierung vorgeworfen hatte, ganz und gar konstruiert war,
hatte das Gericht bis dahin an keinem Prozesstag zu erkennen gegeben, dass
es die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft für haltlos hielt.
Im Gegenteil, immer wieder wurde die Verteidigung gemaßregelt und immer
wieder lehnte das Gericht wegen der „Schwere der Vorwürfe“ eine Entlassung
Kavalas aus der U-Haft ab. Selbst nachdem der europäische
Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg im Dezember die Entlassung Osman
Kavalas aus der U-Haft gefordert hatte, lehnte das Gericht es ab, der
Forderung nachzukommen.
## Vorwurf: Geplanter Umsturz
Hintergrund des gesamten Prozesses waren die so genannten Gezi-Proteste im
Sommer 2013, als zunächst in Istanbul und dann landesweit hunderttausende
Menschen auf die Straßen gingen um gegen den autoritären und repressiven
Regierungsstil des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen
Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu protestierten.
Aus Sicht der Anklage sollen Osman Kavala, die Architektin Mücella Yapıcı
und der Menschenrechtsaktivist Yiğit Aksakoğlu die Anstifter, Drahtzieher
und Finanziers der Proteste gewesen sein und dabei das Ziel eines Sturzes
der Regierung Erdoğan verfolgt haben.
Erschwerte lebenslängliche Haft, hatten die Staatsanwälte deshalb gegen die
drei Hauptangeklagten gefordert, die anderen Angeklagten, unter ihnen auch
der im deutschen Exil lebende Can Dündar, sollten ebenfalls für viele Jahre
ins Gefängnis.
Das Gerichtsurteil sorgte am Dienstag überall in der Türkei für eine
riesige Überraschung. Nach dem bisherigen Prozessverlauf war die gesamte
Opposition überzeugt, dass die Regierung von Präsident Erdoğan insbesondere
an den drei Hauptangeklagten ein Exempel statuiert sehen wollte.
Allerdings kursierten kurz nach der Urteilsverkündung Nachrichten in den
türkischen Medien, in denen der Freispruch für alle 16 Angeklagten
revidiert wurde. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu vermeldete, dass
Osman Kavala und neun Angeklagte freigesprochen, aber der Fall der sieben
weiteren, im Exil lebenden Angeklagten demnach abgetrennt wurde.
## Ein Ende der politischen Justiz?
Die Gezi–Proteste, die im Herbst 2013 nach einem halben Jahr durch brutale
Polizeigewalt niedergeschlagen wurden, waren die lautesten und am
breitesten gesellschaftlich verankerten Proteste gegen die Regierung
Erdoğan gewesen.
Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 war die Repression gegen jede
Opposition und oppositionelle Meinung dann noch einmal verschärft worden.
Umso überraschender die jetzigen Freisprüche.
Die Konsequenzen dieses Urteils sind zunächst einmal, dass die Opposition
von einem Alptraum befreit wird und wieder Mut schöpft. Ob dieser
Freispruch mehr als ein singuläres Ereignis ist und eine Wende in der
politischen Justiz andeutet, ist noch nicht absehbar.
18 Feb 2020
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
taz.gazete
Politik
Türkei
taz.gazete
Schwerpunkt Türkei
## ARTIKEL ZUM THEMA
Bewaffnete Nachtwächter in der Türkei: Auf in den Polizeistaat
In der Türkei sollen Nachtwächter mit Polizeibefugnissen im Kiez
patrouillieren. Die Opposition sieht darin ein neues Repressionsinstrument.
Kampagne für Osman Kavala: Moralischer Mut
Weiter in Haft: Osman Kavala, Förderer der türkischen Zivilgesellschaft.
„Artists United for Osman Kavala“ kämpfen für seine Freilassung.
Osman Kavala wieder in Haft: Massenverhaftungen in der Türkei
Nach den Freisprüchen im Gezi-Prozess läuft in der Türkei die nächste
Verhaftungswelle. Es geht jetzt um den Putschversuch gegen Erdoğan 2016.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.