# taz.de -- Die Wahrheit: Fragen zum Scheißprodukt | |
> Sogar in der Jobhölle „Callcenter“ gibt es einen untersten Höllenkreis. | |
> Ein tiefer Einblick in den schluchtentiefen Abgrund der Arbeitswelt. | |
Das Telefon klingelt. Dirk möchte nicht rangehen. Er hat die Sorge, dass er | |
diesmal nicht ernst bleiben kann, obwohl das seine wichtigste Aufgabe ist. | |
Eisern Disziplin zeigen, hat sein Ausbilder im Test-Callcenter immer zu ihm | |
gesagt. Den Kunden ernst nehmen mit seinem Anliegen, auch wenn man ihn für | |
den größten Depp hält. Freunden erzählt Dirk, er arbeite als | |
„Kundenberater“. Das beschreibt seinen Job am besten und sagt gleichzeitig | |
so gut wie nichts aus. | |
Manchmal denkt Dirk, er hätte damals nie diese 0800-Nummer anrufen sollen. | |
Es war ein spontaner Gedanke aus Jux und Tollerei. Dirk hatte einfach mal | |
hören wollen, was die Berater erzählen, wenn man Fragen zum Produkt hat, um | |
sich danach über die armen Schweine totlachen zu können. Vermutlich hatte | |
Dirk aber zu interessiert oder zu seriös geklungen, denn irgendwann hatte | |
sich das Telefonat zu einem Vorstellungsgespräch entwickelt – und nun saß | |
er selbst im Callcenter. | |
Das Telefon klingelt erneut. Dirk seufzt und nimmt ab. „Kundenberatung, | |
guten Tag. Sie sprechen mit Dirk. Womit kann ich Ihnen helfen?“ Bis | |
hierhin, denkt Dirk oft, ist alles noch irgendwie normal. Gern würde er die | |
Anrufer zu Computern und Spielkonsolen beraten. Aber das macht schon der | |
Typ drei Tische weiter. Er wirkt entspannt, erzählt gerade einem Anrufer, | |
warum man in dem neu erschienenen Ego-Shooter gegen eine fanatische | |
Christen-Sekte kämpft. Er hat die Füße auf den Tisch gelegt und lacht | |
manchmal auf. Offenbar verstehen sich die beiden. | |
Dirk arbeitet für eine große Supermarkt-Kette, ebenso wie die Frau neben | |
ihm, die gerade auf Tinder Profile prüft. Sie wirkt gelangweilt. Ist es | |
wegen Tinder oder wegen der Haushaltsreiniger? Sie berät Kunden zu | |
Haushaltsreinigern. Wo man sie einsetzen darf und was man bei der | |
Verwendung beachten muss. Sie hat den Tag über nicht viel zu tun. Die Leute | |
haben nicht viele Fragen zu Haushaltsreinigern. Dirk lauscht der Stimme aus | |
dem Hörer in seiner Hand. | |
„Guten Tag, hier spricht Krampitz aus Bernau. Ich habe vorhin mal | |
nachgezählt. Mein Klopapier hat nur 143 Blatt und nicht 150 Blatt wie auf | |
der Packung draufsteht.“ | |
„Das ist produktionsbedingt, Herr Krampitz“, antwortet Dirk. „Die Angabe | |
auf der Toilettenpapier Verpackung ist ein Richtwert. Manchmal sind die | |
Produktionsmaschinen ungenau. Es gibt Fälle, wo sich durchaus auch mal 156 | |
Blatt auf einer Rolle befinden können.“ | |
„Ja, aber nicht bei mir. Das ist eine Unverschämtheit. Ich habe mich im | |
Markt beschwert, aber da haben die mir einen Vogel gezeigt und gesagt, sie | |
hätten andere Probleme. Dabei ist das eine wichtige Sache! Ich wurde | |
betrogen und verlange Wiedergutmachung.“ | |
„Ich werde mich darum kümmern, Herr Krampitz. Sie erhalten die Tage Post | |
von mir. Auf Wiederhören.“ | |
## Die Anrufer wollen einfach nur Dampf ablassen | |
Dirk seufzt erneut. „Na, mal wieder so ein Irrer bei dir?“, fragt die Frau | |
nebenan. Sie fragt das häufig. Dirk nickt. Dann steht er auf, geht auf die | |
Toilette und reißt dort sieben Blatt von der Klopapierrolle. | |
Sein Chef hat gesagt, man solle die Sache vergessen, die Anrufer wollen | |
einfach nur mal Dampf ablassen. Aber Dirk hat trotz allem das Bedürfnis, | |
dem Kunden zu seinem Recht zu verhelfen. Er setzt sich an seinen Platz, | |
holt einen Umschlag aus der Schublade hervor und schiebt vorsichtig die | |
sieben Blatt in das Kuvert. Dann schreibt er säuberlich die Adresse von | |
Herrn Krampitz drauf und bringt den Umschlag zum Postausgang. | |
Als er zurückkommt, klingelt das Telefon erneut. „Schmitzke am Apparat. | |
Hören Sie, ich habe neulich gesehen, dass es auch blau gefärbtes Klopapier | |
gibt. Warum gibt es kein braun gefärbtes? Das wäre doch mal nützlich. Dann | |
sieht man die Scheiße nicht so.“ | |
## Die Deutschen wollen kein lustiges Klopapier | |
„Nun, Herr Schmitzke, das ist gewissermaßen eine Frage des Designs und der | |
Farbgebung und wie die Kunden darauf reagieren. Weiß gilt als eine reine, | |
saubere Farbe, wenn Sie so wollen. Daher wird es standardmäßig für die | |
Herstellung von Toilettenpapier verwendet. Wissenschaftliche Untersuchungen | |
haben ergeben, dass es sich mit der Farbe Blau ähnlich verhält. Also | |
positiv in der Wahrnehmung. Sie können sich vorstellen, dass es mit einer | |
braunen Färbung anders ist. Da würden die Kunden beim Kauf etwas | |
assoziieren, das vom Hersteller nicht gewünscht wird. Es gibt allerdings im | |
Internet Anbieter, die braunes, schwarzes, grünes und blaues | |
Toilettenpapier anbieten. Das blaue allerdings nicht in dezentem | |
Labor-Blau, sondern in einem satten, fast schon grellen Blauton, der | |
gewöhnungsbedürftig ist. So eine Art Knicklicht-Blau. Also, ich persönlich | |
würde so etwas nie benutzen.“ | |
Dirk stockt. Der Anrufer hat aufgelegt. Sonst hätte er ihm noch erzählt, | |
dass die Supermarkt-Kette auch keine Rollen mit lustigen Sprüchen anbietet, | |
weil nach einer Studie 97 Prozent der Deutschen keinen „zusätzlichen | |
Unterhaltungswert“ bei der Wahl ihres Toilettenpapiers wünschen. Dirk hat | |
das irgendwo gelesen und nicht vergessen. | |
Dirk schaut abermals neidisch zu dem Kollegen vom Bereich | |
„Computer/Spielkonsolen“. Der telefoniert noch immer und preist gerade | |
wortreich die Wirksamkeit verschiedener Waffentypen. Welche Wumme für | |
welchen Gegner taugt und wo sich was finden lässt. Es ist herauszuhören, | |
dass er selbst großen Spaß an dem Spiel hat. | |
Das Telefon klingelt wieder. „Hallo, Sylvia Klonk hier. Ich möchte mich | |
beschweren. Mir ist aufgefallen, dass sich bei dem Toilettenpapier der | |
Marke Sanftweich die Prägung verändert hat. Bis vor Kurzem lag der | |
durchschnittliche Abstand zwischen den Prägestreifen bei 7 Millimeter, | |
jetzt sind es nach meinem Messungen 8,2. Außerdem hat sich die Form der | |
Prägung verändert. Früher war es ein Schlangenmuster, jetzt ist es ein | |
Rautenmuster. Können Sie mir das erklären? Lässt sich das rückgängig | |
machen? Mich stört das bei der Verwendung. Es gibt ein Konkurrenzprodukt | |
bei einem anderen Markt, aber da möchte ich nicht hingehen, weil in der | |
Nähe die Frida wohnt, mit der möchte ich nicht mehr reden. Aber die Frida | |
geht immer da einkaufen.“ | |
Dirk will etwas antworten, aber ihm fehlen die Worte. Er muss eigentlich | |
nur irgendetwas erzählen und das Schlagwort „produktionsbedingt“ erwähnen. | |
Das ist das Stichwort, das die Leute hören wollen, weil es alles erklärt | |
und zugleich nichts. Dann denkt Dirk, dass er doch auch mal etwas Lustiges | |
sagen könnte. Endlich mal. Ein kleiner Scherz. Oder er könnte der Anruferin | |
raten, sich mit Frida zu versöhnen. Er könnte Nachbarschaftshilfe oder | |
Seelsorge betreiben, irgendetwas Nützliches aus diesem Job ziehen. Aber er | |
kriegt den Mund nicht auf. Dirk legt auf. | |
Er schaut zu den anderen beiden. Die Kollegin blättert in einer | |
Illustrierten. Er hat sie schon öfter gefragt, ob sie mal den Platz | |
tauschen wollen. Ein bisschen Abwechslung in den Job bringen. Dirk würde | |
sich auch schlaumachen über Haushaltsreiniger. Aber sie lehnt jedes Mal ab. | |
Den Kollegen zu fragen, traut er sich nicht. | |
Dirk seufzt und holt sich einen Kaffee. Er lässt sich viel Zeit dabei. Drei | |
Stunden noch, dann hat er Feierabend. | |
8 Feb 2020 | |
## AUTOREN | |
Robert Rescue | |
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