# taz.de -- Dirigent Karim Wasfi über den Irak: „Die Jugend sucht nach Ident… | |
> Die Eskalation zwischen dem Iran und den USA findet auf irakischem Boden | |
> statt. Kein Zufall, meint Karim Wasfi. Die Protestbewegung bleibt | |
> standhaft. | |
Bild: Bagdad, Novemeber 2019: Karim Wasfi begleitet die regierungskritischen Pr… | |
taz: Herr Wasfi, Sie sind gerade aus Bagdad zurückgekehrt, wo Sie die | |
Protestbewegung unter anderem durch Konzertveranstaltungen unterstützen. | |
Wie ist die Stimmung [1][der Demonstrierenden, die seit Wochen gegen die | |
Regierung auf die Straße gehen], nach der jüngsten Eskalation zwischen Iran | |
und USA? | |
Karim Wasfi: Die Protestbewegung hat deutlich gemacht, dass sie | |
weiterbesteht. Aber natürlich gibt es die Furcht, dass Demonstrierende noch | |
öfter Ziel von Angriffen werden – weil sie in dieser Krise für einen | |
neutralen Irak einstehen und sich nicht auf die Seite Irans schlagen. Damit | |
laufen sie Gefahr, als proamerikanisch oder prowestlich abgestempelt zu | |
werden. Die Regierung versucht bereits seit Wochen, die Leute zu | |
verunglimpfen, statt sie als das zu sehen, was sie sind: Iraker, die | |
versuchen, eine Nation aufzubauen. | |
Manche fürchten aber, dass sich die Situation weiter verschlimmert und ein | |
Krieg droht – und dass dieser nicht zuletzt auf irakischem Boden | |
stattfinden könnte. | |
Ja, und viele fragen sich, warum die USA [2][den iranischen General Qasim | |
Soleimani] ausgerechnet im Irak eliminiert haben. Für mich ist das keine | |
große Überraschung. Auch die jüngsten Angriffe des Iran und seiner | |
Verbündeten auf US-Einrichtungen erfolgten nicht im Libanon oder in Syrien | |
– sondern hier. Warum? Weil sowohl die USA als auch der Iran hier einen | |
Zugang haben. Die irakische Regierung hat die Angriffe proiranischer | |
Milizen auf US- und internationale Einrichtungen im letzten Jahr nicht | |
verhindern können, womit sie selbst zur Eskalation beigetragen hat. | |
Ich glaube, dass sich die Demonstranten mehr vor der irakischen Regierung | |
fürchten müssen als vor einer Verschärfung des Konflikts zwischen den USA | |
und dem Iran. Denn diese hat es nicht geschafft, ihre Bürger, die hier | |
friedlich demonstrieren, zu schützen, sondern hat die Gewalt gegen sie mit | |
zu verantworten. 600 Menschen sind seit Oktober getötet worden, über 16.000 | |
verletzt. | |
Dennoch wurde die Regierung von internationalen Akteuren nur zaghaft für | |
ihr Vorgehen kritisiert. | |
Das stimmt. Es gab zwar Anstrengungen, mit einzelnen Leuten oder Gruppen | |
der Protestbewegung in Kontakt zu treten. Und in diplomatischen Berichten | |
wurde das, was geschah, auch klar benannt. Nur offizielle Kritik gab es | |
kaum. Eine angemessene Reaktion würde bedeuten, dass die internationale | |
Gemeinschaft anerkennt: Der Irak ist mit dieser Regierung ein gescheiterter | |
Staat. Ein Staat, an deren Aufbau die internationale Gemeinschaft seit 2003 | |
selbst beteiligt ist … | |
… und gegen den die Iraker seit Monaten protestieren. | |
Genau. Die Leute sehen, wie die Ölexporte der Regierung jeden Tag 300 | |
Millionen Dollar einbringen. Gleichzeitig werden keine neuen Krankenhäuser | |
oder Universitäten gebaut. In den neunziger Jahren, während der | |
US-Sanktionen, gab es zumindest einen einigermaßen funktionierenden | |
Privatsektor. Heute gibt es nicht einmal mehr das. Die Gesellschaft ist | |
gespalten: Es gibt eine kleine Minderheit, die vom System profitiert – die | |
Staatsangestellten und Politiker, die ihre Posten dank Beziehungen oder | |
ihrer Parteizugehörigkeit innehaben. Und dann gibt es die große Mehrheit, | |
die nichts von alledem hat. | |
In der Außenwahrnehmung verlief die Spaltung des Irak aber lange vor allem | |
zwischen konfessionellen oder ethnischen Gruppen. Hat sich das verändert? | |
Eine Errungenschaft der Protestbewegung ist, dass sie eine irakische | |
Identität hat aufleben lassen, die zuvor lange verschüttet war. Die | |
Demonstranten sind weder links noch rechts noch identifizieren sie sich mit | |
irgendeiner Religion. Es ist ein Gefühl von Zugehörigkeit entstanden, das | |
stärker ist als alle Differenzen. | |
Wie kam es dazu? | |
Da muss ich kurz ausholen: Der Sturz des Saddam-Regimes 2003 war ein Schock | |
für die irakische Gesellschaft. Ein System, ein funktionierender Staat, war | |
von einem Tag auf den anderen einfach weg. Dann kam der Bürgerkrieg; viele | |
flohen aus dem Land, was den Identitätsverlust weiter förderte. Und viele | |
beriefen sich auf ihre religiöse oder ethnische Zugehörigkeit. | |
2014 kam der „Islamische Staat“, die Gewalt eskalierte einmal mehr, was die | |
Regierung nicht verhindern konnte. All das haben die jungen Iraker | |
mitangesehen und erlebt – während sie gleichzeitig die Welt da draußen über | |
das Internet sahen und von ihren Eltern hörten, wie der Irak früher einmal | |
gewesen war. Diese Jugend sucht nach einer Identität. Und nach Anerkennung. | |
Sie selber sind bekannt geworden, weil Sie während des Bürgerkriegs in | |
Bagdad zwischen 2006 und 2009 mit ihrem Cello jeweils dort spielten, wo | |
kurz zuvor Bomben explodiert waren. Wie sehen Sie die Bedeutung von Kunst | |
und Kultur für die Protestbewegung? | |
Es ist erstaunlich: Ich habe so viel gemacht – während meiner Zeit als | |
Dirigent des Irakischen Symphonieorchesters 2007 bis 2016, oder auch als | |
Gründer der NGO „Frieden durch Kunst“, die sich in den Bereichen | |
Deradikalisierung und Friedensförderung engagiert. Schlussendlich war aber | |
dieser eine, persönliche Akt der Ausdauer genauso effektiv. | |
Auch bei der jetzigen Protestbewegung ist die Kunst ein essentieller | |
Bestandteil. Indem wir Konzerte veranstalten, setzen wir ein Zeichen der | |
Zivilisierung. Manche Politiker haben versucht, die Protestierenden als | |
Ungebildete zu diffamieren, die nur Chaos stiften wollen. Rund um den | |
Tahrir-Platz in der jahrelang vernachlässigten Altstadt von Bagdad hat die | |
Protestbewegung eine Utopie geschaffen – einen Traum von dem Land, in dem | |
sie gern leben möchten. Es ist eine Wiedergeburt all dessen, was jahrelang | |
verunmöglicht wurde. | |
Lassen sich die Politiker davon beeindrucken? | |
Ein Regime kann man nicht nur auf der Straße unter Druck setzen. Man muss | |
es auch durch Bildung tun. Die Leute haben realisiert, dass sie selber | |
entscheiden sollten, wie sie leben wollen – und sich dies von niemandem | |
vorschreiben lassen müssen. | |
Wenn Diplomaten oder Vertreter der internationalen Gemeinschaft mich | |
fragen, was die Protestbewegung erreichen kann, antworte ich ihnen immer: | |
Das Wichtigste hat sie schon erreicht. Dass nämlich die Leute für ihre | |
Rechte und Pflichten aufstehen, dass sie glauben, aus eigener Kraft etwas | |
ändern zu können, und dass sie auch dementsprechend handeln. Irgendwann | |
werden die Politiker merken müssen, dass ihre Rechnung nicht mehr aufgeht. | |
Die Leute, die das Spiel durchschauen, sind in der Überzahl. | |
9 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Meret Michel | |
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