# taz.de -- Leben im Bordell in Istanbul: Die sicherste Festung der Stadt | |
> Wenn die Wohnung gekündigt wird in Istanbul, dann kann es sein, dass ein | |
> Bordell zur neuen Heimat wird – zwischen Freundlichkeit und Schmerz. | |
Bild: Eine Istanbuler trans Frau ist manikürt, trägt Chanel-Parfüm – und a… | |
Heute erzähle ich Ihnen, wie es dazu kam, dass ich einmal drei Monate in | |
einem Istanbuler Bordell gewohnt habe. 2003 lebte ich in Ortaköy, einem | |
Istanbuler Viertel am Bosporus, das säkular und transfreundlich ist. | |
Ich war immer noch erfolglos auf der Suche nach einem Job und pleite. Die | |
letzten zwei Monatsmieten und Nebenkosten hatte ich schon nicht mehr zahlen | |
können. Schließlich klingelte meine Vermieterin und sagte mir, dass ich | |
innerhalb von drei Tagen aus der Wohnung raus sein müsse. Wie in dem Film | |
„50 First Dates“ erlebte ich die gleiche Situation immer wieder von Neuem. | |
An diesem Abend packte ich meinen berühmten kleinen Koffer ein weiteres | |
Mal. Ich rief meine Freundin Işıl an, eine trans Frau aus Izmir, die mich | |
in Ortaköy abholte. | |
Wir klingelten an der grünen Eisentür eines maroden Gebäudes in einer der | |
Hintergassen von Beyoğlu. Eine trans Frau öffnete die Tür und hieß uns mit | |
einem offenen Lächeln willkommen. Als ich eintrat, schauten mich Dutzende | |
lächelnde trans Frauen an. In dem Augenblick begriff ich, dass wir in einem | |
Bordell waren. | |
Die Mädels umarmten und küssten mich eine nach der anderen. Alle redeten | |
durcheinander, stellten mir Fragen, manche berührten meine Haare. Sie | |
dachten wohl, dass meine blonden langen Haare eine Perücke seien. | |
Währenddessen ging ständig die grüne Eisentür auf und Männer kamen herein. | |
Was für ein hervorragender Ort für eine Journalistin, dachte ich mir. | |
## Kriminelles Viertel | |
Ich bekam ein kleines Zimmer in der obersten Etage. In der ersten Nacht | |
[1][habe ich Beyoğlu vom Balkon aus betrachtet.] Trotz des ganzen Chaos, | |
des Lärms und des Gewimmels war Beyoğlu mit seinem Glanz vergangener Tage | |
von berückender Schönheit. In dem Bordell in Istanbuls kriminellstem | |
Viertel verbrachte ich eine friedliche Nacht. Dieses Haus war für mich die | |
sicherste Festung der Stadt. | |
Das Bordell wurde für drei Monate mein Zuhause, und die Prostituierten | |
waren meine Familie. Die Mädels organisierten sogar eine kleine Arbeit für | |
mich. Weil ich gut Englisch sprach, habe ich für die touristischen Kunden | |
übersetzt und mir so ein Taschengeld verdient. | |
Das Gebäude war sehr alt. Wahrscheinlich hat es vor dem Istanbuler Pogrom | |
1955 Griechen oder Juden gehört. In dem Gebäude wohnte eine wunderschöne | |
Frau namens Ebru Soykan. Ich wurde ihre Tochter. In der Istanbuler trans | |
Community ist die Mutter-Tochter-Beziehung verbreitet. Ebru [2][brachte mir | |
bei, eine trans Frau zu sein.] Eine Istanbuler trans Frau ist manikürt, | |
trägt Chanel-Parfüm – und auf keinen Fall Sneakers. Sie erklärte mir, dass | |
bei Dates der Mann die Rechnung zahlt und die Frau mit dem Auto abholt. | |
Ebru wurde zu einer Freundin, die in meinem Leben einen ganz besonderen | |
Platz einnahm. Sechs Jahre später wurde sie von einem Mann, der sie | |
wiederholt belästigt hatte, mit 36 Messerstichen umgebracht. Sie wurde 28 | |
Jahre alt. | |
16 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Michelle Demishevich | |
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