| # taz.de -- Premiere an der Volksbühne Berlin: Maschinen voller Gnade | |
| > Zersplitterte Hochgeschwindigkeitsexistenz: Kay Voges’ rasantes | |
| > Bühnen-Video-Stück „Don’t Be Evil“ feiert Premiere an der Berliner | |
| > Volksbühne. | |
| Bild: „Don't be evil“: Szenenbild mit dem Ensemble der Volksbühne | |
| Berlin taz | Aber es gibt ja nichts Harmloses mehr: ein Satz, der an diesem | |
| Abend in der Volksbühne fällt. Einem Abend, der, das gleich vorweg, | |
| denkwürdig opulent aufzeigt, wie man das videografische Erbe dieses Hauses | |
| gleichermaßen würdigen und zeitgemäß übertrumpfen kann. | |
| Dabei fängt es so gewöhnlich an. Zunächst füllt eine große Leinwand die | |
| Bühne. Auf dieser sieht man Menschen nackt und nah, so nah, dass man die | |
| Nasenhaare erkennen kann. Die Menschen, das sind natürlich die | |
| Spieler*innen, aber auch der Regisseur des Abends Kay Voges selbst, und | |
| sie alle eint: das Gähnen. So geht das zehn Minuten lang, Großaufnahme, | |
| Gähnen, nächste Großaufnahme, nächstes Gähnen. | |
| Das ist ein bisschen provokant – Betonung auf „ein bisschen“ – , weil | |
| Gähnen ja bekanntlich ansteckend ist. Und wer will sein Publikum schon | |
| gleich am Anfang zum Gähnen bringen? Ganz ehrlich, genau so stellt man sich | |
| doch als hochnäsiger Hauptstädter/Volksbühnen-Gänger das Theater im Westen | |
| der Republik vor: Witzig? Bisschen. Provokant? Bisschen. Juckt? Jup. | |
| Zum Glück entpuppt sich der flügellahme Einstieg schnell als Finte, wenn | |
| Kay Voges und sein Filmteam um DoP Voxi Bärenklau und Live-Cutterin Andrea | |
| Schumacher im Anschluss ihre Bildmaschine mit konstant zunehmender | |
| Beschleunigung in Bewegung setzen. Das Bühnenbild (von Michael | |
| Sieberock-Serafimowitsch) besteht aus ein paar gekachelten Wänden, die man | |
| so oder so ähnlich schon mal in einem Hollywoodfilm gesehen zu haben | |
| glaubt. Wände? Auch das ist eine Finte. | |
| ## Jede Kachel ist eine kleine Projektionsfläche | |
| In Wahrheit ist jede Kachel eine kleine Projektionsfläche und wird auch als | |
| solche benutzt. Zunächst zeigt die Leinwand-Bühne einige wenige davon | |
| überlebensgroß. Doch im selben Maße, wie die Inszenierung nach gemächlichem | |
| Einstieg immer mehr an Fahrt aufnimmt, wird auch die Projektionsfläche | |
| kleinteiliger und zeigt immer mehr Menschen; am Ende sind es so viele, dass | |
| man den Einzelnen nicht mehr zu erkennen vermag. | |
| Das ist sehr konsequent, immerhin will Kay Voges mit diesem Abend das sehr | |
| hoch gesteckte Ziel erreichen, unsere zersplitterte | |
| Hochgeschwindigkeitsexistenz zwischen Instagram, Twitter und Reddit | |
| einzufangen. Ein Ziel, das er mit dem konsequenten Fokus auf ein Zuballern | |
| des Publikums durch Bild, Sound und Text auch erreicht. | |
| Es gibt kaum einen Moment, in dem nicht mehrere Dinge gleichzeitig | |
| passieren, in dem man nicht weiß, wo man zuerst hinglotzen oder hinhören | |
| soll. Aber man hat Spaß dabei, weil das alles so gut gefilmt und | |
| geschnitten ist. Zumindest dann, wenn man an unserer vernetzten Realität | |
| manchmal auch Gefallen findet. | |
| „Don’t Be Evil“ hantiert mit einer Vielzahl von Fremdtexten, versucht aber | |
| gar nicht erst, seinem Publikum eine kohärente Erzählung zu liefern, | |
| vielmehr werden an diesem Abend viele Erzählstränge verfolgt, von denen | |
| manche nur kurz angerissen werden, während andere immer mal wieder | |
| aufploppen. Zum Beispiel die Geschichte eines Pärchens à la Bonnie und | |
| Clyde (Vanessa Loibl und Manolo Bertling), das via Livestream von einer | |
| Geiselnahme berichtet und schließlich vor laufender Handykamera von der | |
| Polizei erschossen wird. | |
| ## Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace | |
| Zusätzlich greifen Voges und das real auf der Bühne zwischen unüberschaubar | |
| vielen Rollen überzeugend umherspringende Ensemble auf eine Handvoll | |
| historische Texte über Kommunikation und Vernetzung zurück. Angefangen mit | |
| Bertolt Brechts Ende der 1920er Jahre verfasster Radiotheorie, arbeitet man | |
| sich dann im Laufe des Abends – unter anderem auch gemeinsam mit dem | |
| Publikum – durch die „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ von [1][… | |
| Perry Barlow]. | |
| Auf Papier gebracht, mag das alles nach anstrengender geistiger Arbeit und | |
| Überforderung und einer sechsstündigen Odyssee klingen – tatsächlich | |
| schaffen es Voges und Ensemble allerdings, all diesen Stoff in zwei Stunden | |
| zu verpacken, die einen konstant bei der Stange halten und unterhalten. | |
| Zwar fehlt einem dabei an mancher Stelle die Tiefe – bahnbrechende neue | |
| Gedanken zur Übermüdungs- und Überforderungsgesellschaft werden an diesem | |
| Abend nicht kundgetan, und der Blick auf die Gegenwart ist am Ende ein | |
| eindimensional privilegierter –, man verlässt die Volksbühne aber trotz des | |
| dystopischen Bilderwahns mit einer optimistischen Erkenntnis: Man kann auf | |
| dieser Bühne noch arbeiten im vollen Bewusstsein der Vergangenheit, ohne | |
| das diese einen erdrückt. | |
| ## Rettung durch Maschinen | |
| Nachdem Bonnie und Clyde tot sind, deutet die Inszenierung, inspiriert | |
| durch Film und Fernsehen, einen Lösungsansatz zur Rettung beziehungsweise | |
| zum Untergang (das liegt im Auge des Betrachters) des digitalisierten | |
| Abendlandes an: die Herrschaft der Maschinen. „All watched over by machines | |
| of loving grace“, steht dann in Großbuchstaben auf die Bühne geschrieben | |
| da. | |
| Es ist der Titel eines Gedichts, das der Gegenkultur-Klassiker Richard | |
| Brautigan in San Francisco schrieb. Der Westcoast-Underground der Siebziger | |
| prägte bekanntlich auch jene Menschen, die in der Folge die Unternehmen | |
| gründeten, die heute von der Bay Area aus die Netzrealität regieren. | |
| Folgerichtig ist also der aus dem Google-Firmencredo geklaute Titel des | |
| Abends: „Don’t Be Evil“. Was heute gut und was böse ist, das vermag dies… | |
| Abend nicht zu beantworten. Auch das ein Glück. | |
| 3 Oct 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Archiv-Suche/!5147691&s=John+Perry+Barlow/ | |
| ## AUTOREN | |
| Sascha Ehlert | |
| ## TAGS | |
| Berliner Volksbühne | |
| Theater | |
| Theater | |
| Berliner Volksbühne | |
| Frank Castorf | |
| Frank Castorf | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Inszenierung an der Berliner Volksbühne: Das Lachen der Toten | |
| Claudia Bauer inszeniert „Germania“ nach Heiner Müller. Der fand stets das | |
| Faschistische in Attitüden des Alltags. Dazu findet Bauer kein Verhältnis. | |
| Homers Odyssee in der Volksbühne: Viriles Theater ohne Zwischentöne | |
| Seinen Antritt als neuer Schauspieldirektor der Berliner Volksbühne feierte | |
| Thorleifur Örn Arnarsson mit einer Neuinterpretation der „Odyssee“. | |
| Skandal bei Castorfs Verdi-Inszenierung: Die Welt ist dunkel und schlimm | |
| Frank Castorf hat an der Deutschen Oper in Berlin Verdis „Macht des | |
| Schicksals“ inszeniert. Befürworter und Kritiker stritten sich im | |
| Auditorium. | |
| Castorf-Premiere in Berlin: Melancholie und Raserei | |
| Frank Castorf inszeniert Brechts „Galileo Galilei“ am Berliner Ensemble. | |
| Dabei schneidet er Brecht und Antonin Artaud gegeneinander. |