# taz.de -- Choreograf Tomer Zirkilevich über Kunst: „Wir sind alle Sünder�… | |
> Liebe, Glaube, Grenzen: Der Choreograf Tomer Zirkilevich befragt in | |
> seinem Stück „My David/Sodom“ die hellen und dunklen Seiten von | |
> Beziehungen. | |
Bild: Perfekte Liebe? Oder zu enge Grenzen? | |
Um Liebe, und was sie anrichtet, welche Grenzen sie überwinden muss, geht | |
es in den Stücken von Tomer Zirkilevich. Nicht immer geht es dabei um | |
romantische Liebe, in „Like Father, likes Son“ (2016) sind es die Bande zum | |
Vater, die durchtrennt werden müssen. Zum reinen Tanz kommt bei ihm oft | |
auch das gesprochene Wort. | |
taz: Herr Zirkilevich, Perfektion: Ist die gut oder schlecht? | |
Tomer Zirkilevich: Perfekt ist, was dich bewegt. In der Kunst strebt man | |
immer nach Perfektion, aber für den einen kann das tanzende Paar, das sich | |
da – irgendwie erotisch, irgendwie sadomaso, irgendwie gay – bewegt, | |
berührend und perfekt sein, ein anderer fühlt sich abgestoßen. Im meinem | |
Stück wird dieses Paar dann auch noch unterlegt von Videos perfekt | |
brutaler, perfekt choreografierter Straßenkämpfe, einer Art Gang-Fights. | |
Jeder kann dann selbst urteilen, was für ihn oder sie perfekt ist. | |
Haben Sie als Künstler je das Gefühl, Perfektion zu erreichen? | |
Ich denke, mit diesen beiden Stücken, „My David“ und „Sodom“, bin ich … | |
nah dran wie noch nie, würde ich sagen. Sie sind ehrlich, hart. Aber dabei | |
sehr unterschiedlich. Der erste Teil, „My David“, ist noch leichtherzig, er | |
handelt vom sich verlieben, davon, eine Beziehung einzugehen. Das zweite, | |
„Sodom“, ist die dunkle Seite – die Beziehung nach einigen Jahren. Ich | |
zeige beide Seiten, man bekommt immer beide. In zwei Monaten werde ich das | |
Stück vermutlich auch anders, weniger perfekt sehen. | |
„My David“ und „Sodom“ sind die ersten beiden Teile Ihrer | |
perfection-Trilogie? | |
Ja, ich hab es zuerst als ein einziges Stück gedacht, es sollte um | |
Perfektion in der Kunst gehen und um die Beziehung zwischen dem Künstler | |
und seiner Muse. Die Idee kam mir, als ich in Florenz Michelangelos David | |
sah. So schön, so perfekt! Michelangelo muss sich bei der Arbeit ihn ihn | |
verliebt haben. Auch ich verliebe mich – vielleicht nicht direkt romantisch | |
– in meine Tänzer. Daraus entspringen meine Kreationen und darüber wollte | |
ich ein Stück machen. Bei der Arbeit ging mir dann aber auf, dass es noch | |
zwei weitere Ebenen gibt. Der Künstler hat Beziehungen mit seiner Muse, | |
klar. Aber auch mit dem Publikum und mit dem Werk selbst. Darum gehts in | |
den anderen beiden Teilen. | |
Verlieben Sie sich auch in Ihr Publikum? | |
Nun ja, ohne Publikum existiert keine Kunst, auch der Künstler nicht, denke | |
ich. Und wie jede Beziehung ist auch diese vom Willen getrieben, geliebt zu | |
werden. Ganz gleich, ob man es aufwühlen, provozieren oder beschimpfen | |
will: man will gesehen werden. Damit das passieren kann, muss man es an | |
sich heranlassen, sich aussetzen. Nackt machen, ob metaphorisch oder | |
physisch. Deshalb hat diese Beziehung auch etwas von Sodom – wie ja auch | |
der zweite Teil meiner Trilogie, der sich eben mit der Verbindung zum | |
Publikum beschäftigt, heißt. | |
Was verbinden Sie mit Sodom? | |
Die Frage: Was verurteilen wir? Heute sind wir natürlich alle Sünder! | |
Zumindest dort, wo ich herkomme, zumindest, wenn es um Gender, Queerness | |
und Sexualität geht. In meiner Religion gibt es da immer noch viele Tabus | |
und ich falle da sicher unter die Kategorie eines Sünders. | |
Kann „Sodom“ nicht auch Freiheit bedeuten? Das nicht-beachten von Grenzen? | |
Erst daraus entsteht doch Intimität. | |
Genau. Das Lustige ist, dass „David“ zwar der leichte der beiden Teile ist | |
– aber eben der, in dem die Grenzen existieren. Das Gute braucht Regeln. | |
Und solange wir Regeln befolgen, sind wir gute Menschen, erhalten die | |
Harmonie. Sodom hingegen beginnt mit der unverfälschten Wahrheit. Es steht | |
natürlich auch für die Lust. Das Ausleben der Träume. Auch derer, für die | |
man sich schämt. | |
So erfährt man, ob man tatsächlich geliebt wird. | |
Ja, beide Stücke sind Allegorien auf Beziehungen. Auch da strebt man ja | |
nach Perfektion. Am Anfang ist das noch leicht, aber wenn es ehrlicher | |
wird, Grenzen fallen, wird es immer schwerer. Dann muss man dafür kämpfen. | |
Auch wenn es kompliziert ist. Das gilt ja auch nicht nur für romantische | |
Beziehungen: jedes Gespräch profitiert vom Sodom! | |
David und Sodom sind beides Motive, Geschichte aus dem alten Testament. | |
Naja, ich komme aus Israel, Religion ist da irgendwie immer ein großes | |
Thema, es umgibt einen und es inspiriert mich auch stark – eben weil ich es | |
infrage stelle. Ich versuche immer, einen Grund dafür zu finden, warum es | |
sie braucht. Wie wir heutzutage noch so urteilen können. Auch das Publikum | |
repräsentiert diese urteilende Instanz, den Gott – dem wir aber dennoch | |
gefallen, vor der wir uns verbeugen wollen. | |
Solange man mit Gott noch kämpft und streitet hat man noch eine Beziehung | |
auch zu ihm, oder? | |
Sicher, ich komme aus dieser Tradition und sie ist auch immer noch ein Teil | |
von mir. Mit allen Schwierigkeiten: Dass Schwule noch immer für ihre Rechte | |
kämpfen müssen, hat ja auch mit dieser Tradition zu tun, die Gründe dafür | |
liegen hierin. Deshalb suche ich vielleicht auch Wege, das zu ändern. | |
Andersherum hat es ja auch funktioniert: Vom Heiligen zu „in god we kill“. | |
Warum sollten sich Dinge nicht auch zum besseren umdeuten lassen? | |
Mit welchem biblischen Motiv beschäftigt sich der dritte Teil der Trilogie? | |
Da geht es ja um die Beziehung zur Schöpfung, zum Werk. Der dritte Teil | |
wird „The Ark“ heißen. Es ist ja immer die Frage: was bewahrt man, was | |
lässt man weg? Was ist man bereit zurückzulassen auf dem Weg zur | |
Perfektion? | |
Kill your darlings? | |
In jeder Beziehung muss man sich die Frage stellen, gesellschaftlich heute | |
ja mehr denn je: Was ist gut, was ist schlecht? Welche Werte brauchen wir, | |
welche müssen wir über Bord werfen auf dem Weg zu einer besseren Welt? Und | |
überhaupt: Haben wir die Flut schon hinter uns und bauen gerade an einer | |
neuen Welt – oder kommt die Flut erst noch? | |
Bei „infidelity“, Ihrem letzten Stück ging es um Untreue in Beziehungen, | |
aber auch um Ihr Gefühl, Ihr Land zu verraten, indem Sie nach Berlin | |
gezogen sind. Konnten Sie dieses Gefühl über Bord werfen? | |
Meine Beziehung zu Israel ist konfliktvoll. Meine Familie, meine Freunde | |
sind dort, es ist einfach Teil meiner Identität. Ich schätze Israels | |
Geschichte, aber die Zukunft macht mir Sorgen. Wie in Beziehungen würde ich | |
auch geografische Grenzen lieber überwinden. Auch wenn das wohl naiv | |
klingt. Aber man darf ja nach der Perfektion streben. Und am Ende eint uns | |
doch alle, dass wir geliebt werden wollen. | |
26 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
## TAGS | |
Zeitgenössischer Tanz | |
Religion | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
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