# taz.de -- Postkarte in die Vergangenheit: Lieber Wilhelm, … | |
> Das Museum für Kommunikation beschäftigt sich mit der Historie der | |
> Postkarte. Zu diesem Anlass schreibt auch unser Autor mal wieder eine | |
> Karte | |
Bild: Das bist du, Wilhelm – eine Postkarte, 1908 verschickt, bildet den Haup… | |
… vor über 100 Jahren hast du es geschafft, ein Star zu werden, ein | |
Influencer deiner Zeit quasi. Du hast die Obrigkeit geprankt, und das, | |
obwohl dich noch nicht mal jemand dabei filmte. Trotzdem wussten schnell | |
alle, wie verwegen du bist. Sie kannten ihn, den Hauptmann von Köpenick. | |
Heute wärst du ein Youtube-Star, du wärst ein Rezo ohne blaue Haare, dafür | |
aber mit Zwirbelbart. | |
Statt zum Internetphänomen wurdest du Anfang des vergangenen Jahrhunderts | |
zum Motiv einer Postkarte – dem Medium, durch das vermutlich auch viele | |
Deutsche erstmals von deiner Aktion erfuhren. Damals war die Postkarte noch | |
der schnellste Weg, Informationen auszutauschen. Nach ein paar Tagen erfuhr | |
der Adressat von den amüsanten Neuigkeiten. | |
Er las dann so etwas wie: „Hey, hast du schon gehört? In Berlin hat ein | |
Trickbetrüger den Bürgermeister festgenommen. Er hat sich bei einem | |
Potsdamer Trödler eine Hauptmannsuniform gekauft und dank seines | |
schauspielerischen Talents zehn Soldaten davon überzeugt, er handle im | |
Auftrag des Kaisers. Sie marschierten zum Rathaus, beschlagtnahmten die | |
Stadtkasse und führten Bürgermeister und Gattin zur Neuen Wache in Berlin. | |
Verrückt, oder?“ Das warst natürlich du, klar, du kennst die Geschichte ja. | |
Aber ich muss sagen: Ich bin beeindruckt. | |
Heute schickt man übrigens keine Postkarten mehr. Zum Ansichtskartenmotiv | |
zu werden, das war damals eine echte Auszeichnung. Heute würde es kaum mehr | |
jemand bemerken. Heute geht es um Klicks und Smileys. Du hättest Fanboys | |
und Fangirls, und du hättest Hater. Der Internetkommentar, der Post, ist | |
die Postkarte von heute. | |
Posts sind aber nicht so schön wie Postkarten. Das gilt auch für den | |
Urlaubspost. Bei Bildern vom Strand, die man auf sein Handy geschickt | |
bekommt, entsteht selten große Freude. Neun neue Nachrichten in irgendeiner | |
Gruppe, lauter Fotos von schönen Landschaften und Menschen mit | |
Sonnenbrillen. Man sieht sie beispielsweise, während man sich gerade müde | |
auf die Bürotoilette schleppt und einen kurzen Blick auf seinen | |
Handybildschirm wirft. Schnell schickt man einen Smiley mit Herzaugen | |
zurück. | |
Eine Postkarte hingegen, die man abends aus dem Briefkasten zieht, ist was | |
anderes. Der Urlauber hat ein Motiv ausgewählt, die Karte gekauft, sie | |
beschriftet, eine eklige Briefmarke abgeleckt und draufgeklebt und dann | |
noch einen Briefkasten gesucht. Das ist ein Aufwand, der zeigt: Ich bin im | |
Urlaub, mir geht es gut – und dabei denke ich an dich. Du bist es mir wert, | |
meine schöne Urlaubszeit damit zu verbringen, dir zu schreiben. | |
Früher, das weißt du ja, Wilhelm, war die Postkarte nicht unbedingt ein | |
Urlaubsgrußmedium. Die erste Postkarte der Welt landete 1869 im | |
Briefkasten. Der Verfasser wollte einen Besuchstermin mit Freunden | |
abstimmen. Richtig gehypt wurde sie dann erstmals kurz nach deinem Coup im | |
Ersten Weltkrieg. Kostenlos konnten Soldaten Feldpostkarten nach Hause | |
schicken, um sich bei ihren Liebsten zu melden, dass sie noch leben. | |
Nach Kriegsende kam die Wirtschaftskrise, die musstest du ja nicht mehr | |
miterleben, sei froh. Das Postkartengeschäft litt übrigens auch. Die Flaute | |
endete schnell, allerdings nicht gerade in positiver Hinsicht: Die | |
Postkarte wurde zum Propagandamittel der Nazis. Nach dem Ende des Zweiten | |
Weltkriegs verlor sie ihre politische Bedeutung wieder, dafür wuchs ihre | |
gesellschaftliche – Urlaubsgrüße, Grüße zum Geburtstag, für so etwas | |
brauchten wir die Postkarte. | |
150 Jahre lang schicken Menschen mittlerweile Postkarten durch die Gegend. | |
In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren es in Deutschland | |
mehr als 900 Millionen Stück pro Jahr. Heutzutage sind es weniger. Aber | |
auch 2017, das hat die Deutsche Post gezählt, kamen immerhin noch 173 | |
Millionen Postkarten beim Empfänger an. Das beliebteste Motiv der Deutschen | |
ist übrigens – nein, das bist leider nicht du. Es ist eine Robbe – frag | |
mich nicht, warum. | |
Zum Schluss noch was Schalkhaftes, Wilhelm, das hätte dir vielleicht | |
gefallen: Beim Postcrossing können sich Postkartenfans online registrieren, | |
dann wird ihnen eine zufällige Empfängeradresse mitgeteilt und eine | |
Postkartenfreundschaft kann, jedenfalls theoretisch, entstehen. Das klingt | |
reichlich kompliziert, aber immerhin trägt es dazu bei, die Postkarte als | |
Teil unserer Kommunikation zu erhalten. | |
Denn genauso wie dein Zwirbelbart natürlich viel mehr Stil hat als die | |
blaue Haarsträhne Rezos, hat auch die Postkarte mehr Stil als eine | |
WhatsApp-Nachricht. Ab Mittwoch können sich die BerlinerInnen das selbst | |
anschauen – im Museum für Kommunikation, wo eine Ausstellung zum runden | |
Geburtstag des Mediums eröffnet. Leider wirst du dich dort nicht mehr | |
selbst begucken und mir nicht mehr antworten können, lieber Wilhelm. Es hat | |
mich trotzdem gefreut, dir zu schreiben. | |
Viele Grüße aus der taz-Berlin-Redaktion, dein Lukas | |
19 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Lukas Waschbüsch | |
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