| # taz.de -- Nach der Säuberungswelle in der Türkei: Vom Lehrstuhl an die Hobe… | |
| > Oppositionelle Wissenschaftler*innen dürfen in der Türkei kaum noch | |
| > lehren. Viele suchen nach neuen Wegen und wechseln den Beruf. Sechs | |
| > Protokolle. | |
| Bild: Medizinerin Suzan Yazıcı lernt jetzt Möbelbau. Ihre Mitstudierenden si… | |
| Mit dem im Sommer 2016 verhängten Ausnahmezustand in der Türkei begann für | |
| Professor*innen und andere Hochschulmitarbeiter*innen eine umfassende | |
| Säuberungswelle. Allein von den Unterzeichnenden der Friedenspetition | |
| wurden 516 Personen per Notstandsdekret aus dem öffentlichen Dienst | |
| entfernt. Die Akademiker*innen für den Frieden hatten sich gegen die | |
| staatliche Gewalt in den kurdischen Provinzen ausgesprochen. Selbst ihre | |
| Reisepässe wurden ihnen entzogen. Über 1.000 Verwaltungsangestellte wurden | |
| aus den gleichen Gründen aus den Hochschulen entfernt. Andere sahen keine | |
| andere Möglichkeit mehr, als ihre Jobs zu verlassen oder überstürzt ins | |
| Exil zu gehen. Wir haben mit Menschen gesprochen, die sich nach dem | |
| erzwungenen Ende ihrer Hochschulkarriere beruflich neu orientiert haben | |
| oder ihre wissenschaftliche Arbeit jenseits der Hochschulen fortführen. | |
| ## Arzu Acar war 20 Jahre im öffentlichen Dienst und Gewerkschafterin, | |
| wurde 2017 entlassen | |
| Nach meiner Entlassung habe ich auf dem Markt und in einem | |
| Antiquitätenladen gearbeitet. Jetzt betreibe ich eine Kneipe und versuche, | |
| meine täglichen Ausgaben als Gastronomin zu bestreiten. Das ist eine neue | |
| Identität für mich geworden und ich gebe mir Mühe, sie als Ausdruck meiner | |
| Haltung zum Leben zu gestalten. Alkohol ist aufgrund der konservativen | |
| Regierungspolitik und infolge der Wirtschaftskrise so teuer geworden, dass | |
| ich nach Möglichkeiten suche, mich meinen Kund*innen gegenüber solidarisch | |
| zu zeigen – etwa, indem ich ihnen erlaube, ihre Getränke selbst | |
| mitzubringen. | |
| Ich möchte einen Raum bieten, in dem Frauen sich wohlfühlen können und lege | |
| darauf Wert, Frauen zu beschäftigen, um der vorherrschenden | |
| Genderdiskriminierung und den Beschränkungen für Frauen im öffentlichen | |
| Raum entgegenzuwirken. Wir wehren uns gegen Polizeirazzien und | |
| Menschenrechtsverletzungen, wir kämpfen gewerkschaftlich und juristisch. In | |
| meinem Lebensalltag fühle ich mich alles andere als besiegt. Es ist sogar | |
| alles aufregender geworden, als er es vorher war, das Leben steckt voller | |
| Überraschungen. | |
| ## Bediz Yılmaz hat am Lehrstuhl für Soziologie der Mersin Universität | |
| gearbeitet | |
| Nachdem ich die Friedenspetition unterschrieben habe, bin ich für zwei | |
| Jahre nach Deutschland gegangen. In der Zeit wurde ich auf einmal selbst | |
| zum Gegenstand meines jahrelangen Forschungsthemas Migration und habe die | |
| Schwierigkeiten der Migration von innen erlebt. Ich hätte durchaus die | |
| verschiedenen akademischen Möglichkeiten in Deutschland ausschöpfen können. | |
| Aber für mich war entscheidend, dass meine Familie in der Türkei war und | |
| ich nicht ein- und ausreisen konnte, weil mir mein Pass entzogen wurde. | |
| Deshalb bin ich nach Mersin zurückgekehrt. | |
| Heute arbeite ich in Mersin in der Landwirtschaft. Gemeinsam mit zwei | |
| Freund*innen haben wir an den Taurushängen einen Olivenhain von einem | |
| halben Hektar angemietet. Zusätzlich haben wir einen Garten von 2000 qm, in | |
| dem wir Saisongemüse anbauen. Ich habe das Gefühl, dass es vielen Menschen | |
| in meinem Umfeld von Zeit zu Zeit durch den Kopf geht, diese Arbeit zu | |
| machen. Manchmal ist es jedoch schwierig zu vermitteln, was für eine | |
| Landwirtschaft ich mir vorstelle, nämlich eine ökologische, die auf | |
| Permakultur aufbaut statt auf Monokultur. Aber ich bekomme auch von vielen | |
| Seiten unterschiedliches Saatgut zugeschickt. | |
| Bisher kann ich meinen Lebensunterhalt noch nicht mit der Landwirtschaft | |
| bestreiten, aber ich habe nichts zu klagen. Ich habe sogar Angst davor, | |
| dass ich eines Tages an die Universität zurück muss. Ich finde die | |
| akademische Sprache realitätsfern und möchte mir nicht mehr einreden | |
| müssen, dass diese Sprache die Realität abbildet. Es gibt immer noch | |
| Themen, wie zum Beispiel der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft, | |
| die mich interessieren und zu denen ich arbeiten will. Aber diese Themen | |
| werde ich auf keinen Fall in ein akademisches Format bringen. Für mich hat | |
| es inzwischen Priorität, ein Forschungsverständnis herausbilden zu können, | |
| das emanzipatorisch und frei ist. | |
| ## Cavidan Soykan war Politikwissenschaftlerin an der Universität Ankara | |
| Seit meinem 18. Lebensjahr habe ich meinen Lebensunterhalt selbst verdient | |
| und diese ökonomische Freiheit sehr genossen. Seit meiner Entlassung lebe | |
| ich bei meinem Vater in Izmir. Es sind jetzt zweieinhalb Jahre, und niemand | |
| in meinem Umfeld hat mich je gefragt, wie es mir da geht. Insbesondere | |
| männliche Akademiker, die selbst entlassen wurden, sind kaum bereit zu | |
| hinterfragen, was für einen Verlust an Freiheit das für eine Frau bedeutet. | |
| Seit eineinhalb Jahren kann ich meine wissenschaftliche Arbeit unter dem | |
| Dach des Vereins für Migrationsstudien (GAR) weiterführen, den wir | |
| gemeinsam mit anderen entlassenen Akademiker*innen gegründet haben. | |
| Allerdings arbeite ich von zuhause aus und werde deshalb von meiner | |
| Familien und von Nachbarn als „arbeitslose, unverheiratete Hausfrau“ | |
| behandelt. Als ich noch an der Uni war, haben mehrere internationale | |
| Organisationen mir Jobs angeboten. Doch sobald der Ausnahmezustand verhängt | |
| war, haben sie mich alle ignoriert. Entweder aus Angst oder weil uns unsere | |
| Reisepässe entzogen wurden. Vor der Entlassung litt ich bereits an einer | |
| chronischen Krankheit, die mein Berufsleben leicht beeinträchtigt hat. Sie | |
| ist jetzt sehr viel schlimmer geworden. | |
| Ich bin also nicht nur von den Exekutivdekreten betroffen, was ja auch eine | |
| gewisse moralische Verantwortung zu kämpfen mit sich bringt, sondern leide | |
| auch darunter, dass ich kaum das Haus verlassen und keine angemessene | |
| Behandlung für meine Krankheit finden kann. Wer aus seinem Job rausgeworfen | |
| wird, vereinsamt unwillkürlich. Wenn man dann noch krank ist, vereinsamt | |
| man umso mehr. Die Geschichten von bekannteren Professor*innen sind in der | |
| Öffentlichkeit relativ sichtbar, aber für uns weniger Bekannten war es | |
| erstens schwer, anderen Menschen zu erklären, was genau passiert ist, und | |
| zweitens mussten wir unser Leben von null auf planen. Ich weiß immer noch | |
| nicht, was ich arbeiten und wie es weitergehen soll. | |
| ## Suzan Yazıcı arbeitete 7 Jahre an der Gerontologie der | |
| Akdeniz-Universität Antalya und wurde 2016 per Notstandsdekret suspendiert | |
| Um den unmittelbaren Schock der Entlassung zu verarbeiten, habe ich die | |
| Wände meiner Wohnung mit Steindekor verkleidet. Es tat mir sehr gut, die | |
| ganzen kleinen Steine einzeln anzukleben. Danach begann ich, bei einem | |
| Schreinermeister zu arbeiten und mich in die Arbeit mit Holz zu stürzen. | |
| Mein Sohn schlug mir vor, nochmal die zentrale Aufnahmeprüfung für ein | |
| Hochschulstudium zu durchlaufen und so konnte ich mich für Möbelbau und | |
| Dekoration einschreiben. | |
| Ich sitze jetzt gemeinsam mit Studierenden, die so alt sind wie mein Sohn, | |
| im Seminar und kann die Dozent*innen, die ja eigentlich meine Kolleg*innen | |
| sind, mit ganz anderen Augen sehen. Ich stelle mir eine Zukunft in diesem | |
| neuen Beruf vor. Wir haben bereits an unser historisches Steinhaus in | |
| Kappadokien eine kleine Pension mit zwei Zimmern angebaut. Das Mobiliar | |
| dafür habe ich selbst gebaut und transportiert. | |
| Als Unterzeichner*innen der Friedenspetition, die ihre Stellungen in | |
| Antalya verloren haben, organisieren wir monatliche Fortbildungsseminare | |
| und Vortragsreihen im Rahmen einer alternativen Akademie namens AnDA | |
| (Solidaritätsakademie Antalya). Ich entferne mich langsam vom | |
| Wissenschaftsbetrieb und interessiere mich für Handarbeit und | |
| Produktionsprozesse. An die Uni zurückzukehren wäre für mich nur noch | |
| insofern ein Gewinn, als damit klargestellt würde, dass meine Rechte | |
| verletzt wurden. Ich bin jetzt 50. Selbst wenn ich zurückkehre, möchte ich | |
| nicht mehr allzu lange in meinem alten Beruf arbeiten. | |
| ## Erbatur Çavuşoğlu ist nach zwanzigjähriger Tätigkeit als Stadt- und | |
| Raumplaner an der Mimar Sinan Universität der Künste nach Deutschland | |
| gekommen | |
| Natürlich hat die Arbeit an der Hochschule mich auf verschiedenste Weise | |
| erfüllt. Aber wenn ich daran denke, dass ich in meinen 20 Berufsjahren auch | |
| fast 20 Disziplinarverfahren und eine Menge Reibereien über mich ergehen | |
| lassen musste, kann ich nicht gerade behaupten, eine harmonische Beziehung | |
| zur akademischen Welt gehabt zu haben. Zum Ausgleich habe ich immer schon | |
| als Musiker gearbeitet. Mein Leben bestand also nie nur aus der Uni. | |
| Als ich 2016 nach Deutschland kam, habe ich mich weder um einen Unijob noch | |
| um ein Stipendium beworben. Stattdessen hab ich mir einen Kindheitstraum | |
| erfüllt und einen Plattenladen aufgemacht. Der Übergang von einem | |
| Festgehalt zum Kleingewerbe hat ziemlich viel Veränderung in mein Leben | |
| gebracht. Ich musste mich um wirtschaftliche und bürokratische Dinge | |
| kümmern, die nie eine Rolle in meinem Leben gespielt hatten. | |
| Meine Arbeitsthemen, aber auch die Kämpfe, in die ich in der Türkei | |
| involviert war, sind ziemlich weit von meinem Leben hier entfernt. Die | |
| Sprachbarriere, die fehlende Verortung, die Identität als Migrant und so | |
| weiter sind für einen Menschen, der sein bisheriges Leben der Arbeit an den | |
| gesellschaftlichen Strukturen der Türkei gewidmet hat, ein ziemliches | |
| Handicap. | |
| Wenn ich allerdings nach vorne schaue, kann ich mir überhaupt nicht mehr | |
| vorstellen, an die Uni oder auch nur in die Türkei zurückzukehren, selbst | |
| wenn die politische Landschaft sich nochmal verändert. Meine Kindheit und | |
| Schulzeit waren von einem Militärputsch überschattet. Ich war einer | |
| permanenten ideologischen Gewalt ausgesetzt und möchte nicht, dass mein | |
| eigenes Kind Ähnliches erleben muss. Ich werde nicht zulassen, dass mein | |
| Kind mit Recep Tayyip Erdoğan, mit Atatürk oder meinetwegen mit Merkel | |
| gehirngewaschen wird. | |
| ## Ertuğrul Uzun wurde aus der Juristischen Fakultät der Eskişehir | |
| Universität entlassen | |
| Nachdem ich rausgeworfen worden bin, habe ich die Arbeit im Haushalt | |
| übernommen, sowohl aus finanziellen Gründen, als auch, weil ich den ganzen | |
| Tag zuhause war. Früher haben wir das Putzen und Kochen mit einer | |
| Haushaltshilfe geregelt. Ich habe gesehen, wie viel Zeit und Mühe es | |
| kostet, in einem Vier-Personen-Haushalt zu putzen und allen etwas zu essen | |
| hinzustellen. | |
| Früher haben wir immer leichthin gesagt, wie unsichtbar und undankbar die | |
| Arbeit im Haushalt ist. Aber erst in dieser Zeit habe ich begriffen, was | |
| das wirklich heißt. Ich kann sagen, dass das meine Sicht auf | |
| gesellschaftliche Arbeitsteilung und aufs Leben vertieft hat. Wenn sich | |
| eines Tages die politischen und rechtlichen Verhältnisse ändern, kann ich | |
| mir prinzipiell vorstellen, an die Uni zurückzukehren. Doch der Ort, an den | |
| ich zurückkehren will, sind nicht die Korridore der Universität oder die | |
| Büros. | |
| Mir ging es um die Beziehung, die ich mit den Student*innen aufgebaut habe, | |
| und darum, meinen Student*innen mit beschränkten Ressourcen so viel wie | |
| möglich beizubringen. Nachdem ich entlassen worden bin, habe ich mit meinen | |
| Freund*innen aus Eskişehir Lesegruppen für frühere Student*innen und andere | |
| Interessierte gegründet. Bei diesen Treffen habe ich gemerkt, dass ich mich | |
| viel weniger selbst zensiert habe – sei es bei der Auswahl des Lesestoffs, | |
| sei es bei den Kommentaren, die ich mache. | |
| Das will ich so fortführen. Ich glaube inzwischen, dass es notwendig und | |
| legitim ist, einige heikle gesellschaftliche und türkeibezogene Themen | |
| anzusprechen, die ich bisher nicht angesprochen habe. Nachdem ich einmal | |
| von diesem System der Unterdrückung und der Lynchkultur betroffen gewesen | |
| bin, werde ich mich viel weniger scheuen, das auszusprechen, was ich zu | |
| sagen habe. Da bin ich sicher. | |
| Aus dem Türkischen von Elisabeth Kimmerle und Oliver Kontny | |
| 18 Jul 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Eren Paydaş | |
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