# taz.de -- Überdrehte Debatte um Merkel: Wer den Druck spürt | |
> Weil Merkel mehrmals zitterte, wird heftig über ihren Gesundheitszustand | |
> spekuliert. Dabei hat sie den doch klar benannt. Etwas Empathie, bitte! | |
Bild: Alle mal hinsetzen und durchatmen, bitte | |
Die Kanzlerin zittert, und alle drehen durch. Nein, das ist kein Titel | |
einer Punkband, sondern die Kurzfassung der Ereignisse aus den letzten | |
Wochen. Nachdem Angela Merkel am Mittwoch beim Empfang des finnischen | |
Ministerpräsidenten Antti Rinne den dritten öffentlichen Zitteranfall | |
innerhalb von gut drei Wochen hatte, werden die Spekulationen über ihren | |
Gesundheitszustand immer wilder – bis hin zu einer Lippenleserin, die | |
entziffert haben will, was Merkel währenddessen vor sich hinmurmelte. | |
[1][Zum ersten Mal] war das Zittern Mitte Juli aufgetreten, beim Empfang | |
des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ein heißer Tag, an dem | |
Merkel später erklärte, dass sie zu wenig Wasser getrunken habe. Neun Tage | |
später, bei der Ernennung der neuen Justizministerin Christine Lambrecht | |
(SPD) durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue, | |
hatte sie [2][einen weiteren Zitteranfall]. Und nun, am Mittwoch, den | |
dritten. Laut Welt fragen sich nun in ganz Deutschland die Menschen, wie | |
krank die Kanzlerin ist. | |
Das beantwortete sie bei einer öffentlichen Pressekonferenz selbst: „Mir | |
geht es gut. Ich hab neulich schon einmal gesagt, dass ich in einer | |
Verarbeitungsphase der letzten militärischen Ehren mit dem Präsidenten | |
Selenski bin. Die ist offensichtlich noch nicht ganz abgeschlossen, aber es | |
gibt Fortschritte und ich muss damit jetzt eine Weile leben. Aber mir geht | |
es sehr gut und man muss sich keine Sorgen machen.“ | |
Angela Merkel war ja schon immer gut darin, etwas zu sagen und dabei nichts | |
zu sagen, aber hier ist sie doch recht deutlich: Sie hat den ersten | |
Zitteranfall noch nicht verarbeitet. Da gibt es eigentlich nicht viel Raum | |
für Spekulationen, selbst der Duden erklärt das Verb „verarbeiten“ damit, | |
etwas geistig oder psychisch zu bewältigen. Kennt doch auch jeder: Wenn | |
einem etwas Unangenehmes in einer bestimmten Situation passiert, man also | |
zum Beispiel einen Vortrag hält und ein Blackout bekommt, dann lässt der | |
nächste Vortrag die Erinnerung daran wieder aufleben, entweder bereits im | |
Vorfeld oder währenddessen. Und genau das, was man unbedingt vermeiden | |
möchte, passiert erneut. Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie sind zudem | |
noch die Bundeskanzlerin und ständig unter Beobachtung. Na, spüren Sie | |
schon den Druck? | |
Nun kann man natürlich argumentieren (wie es auch viele tun), dass ein | |
Staatsoberhaupt mit diesem Druck umgehen muss, vor allem als Frau. Bloß | |
keine Schwäche zeigen! | |
Dazu zwei Dinge. Erstens: Sie hält dem Druck doch stand. Schließlich hätte | |
Merkel sich nach dem ersten Mal auch krankschreiben lassen können und | |
weitere, ähnliche Situationen vermeiden. Stattdessen stellt sie sich ihren | |
Pflichten und zieht eisern durch, was zu tun ist. | |
Zweitens: Wer so argumentiert, hat nicht verstanden, dass das Zugeben einer | |
Schwäche eine Stärke ist. Immer. Jeder Mensch hat Schwächen, aber | |
unsouverän ist nur, wer versucht, sie zu vertuschen. | |
Und nur, um das nochmal klarzustellen: Ein Zittern allein ist noch keine | |
Schwäche, sondern erstmal nur eine Körperreaktion. Genauso wie Schwitzen. | |
Menschen schwitzen, Menschen zittern, Menschen sind keine Roboter. Auch | |
Kanzlerinnen nicht. Angela Merkel ist also, Überraschung!, auch nur ein | |
Mensch. Warum ist das so schwer zu akzeptieren? Und warum würden die | |
meisten Menschen am liebsten Merkels Krankenakte sehen, um sich selbst von | |
der „Wahrheit“ zu überzeugen? Wann würden die Leute denn Ruhe geben – w… | |
sie sagt: Ich hatte eine Panikattacke? Wohl nicht. | |
„Ich muss damit jetzt eine Weile leben“, sagte Merkel bei der | |
Pressekonferenz. Das zu formulieren, ist schlau: So greift sie nicht nur | |
künftigen Spekulationen voraus, sondern minimiert auch den Druck, beim | |
nächsten Mal wieder perfekt zu performen. Und was viele als Eingeständnis | |
eines Problems auffassen, zeigt deutlich, dass sie bestens in der Lage ist, | |
Situationen einzuschätzen – oder einzuschätzen lassen. | |
So eine Sache verschwindet eben nicht über Nacht, das braucht Zeit. Aber | |
vorerst tut es auch erstmal ein Stuhl. Den Empfang der neuen dänischen | |
Ministerpräsidentin Mette Frederiksen am Donnerstagnachmittag vor dem | |
Kanzleramt in Berlin verfolgte Merkel sitzend – genau wie Frederiksen. | |
11 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Seyboldt | |
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